Wo sind sie geblieben ?

     


 

 

Der „Flaschenhals" von Schlüsselburg

1942/43. - Die Schlacht zwischen Leningrad und den Wolchow - Sümpfen

 

Im Herbst 1941 glaubte Hitler noch, Leningrad aushungern zu können, aber schon im Frühjahr 1942 mußte er erkennen, daß dies ein verhängnisvoller Fehler gewesen war. Die Stadt kapitulierte nicht.
Nun erhielt Feldmarschall von Manstein den Befehl, mit seiner 11. Armee, die gerade Sewastopol erobert hatte, auch Leningrad zu Fall zu bringen. Die Mahnungen der obersten deutschen Führung, die 11. Armee im Süden zu belassen, trafen bei Hitler auf taube Ohren. Er wollte Leningrad haben.
Feldmarschall von Manstein entwickelte einen genialen und zugleich einfachen Platz. Mit drei Korps wollte er von Süden her die sowjetischen Stellungen überrennen, am Stadtrand anhalten und mit zwei Korps nach Osten eindrehen, die Newa überschreiten, um so dann Leningrad einzudrücken.
Dieser Plan wurde durch den Spionagering „Rote Kapelle" nach Moskau verraten, und Stalin handelte sofort. Er konzentrierte an der Wolchow-Front alle Verbände: sechzehn Schützendivisionen, neun Brigaden und fünf Panzerbrigaden. Mit dieser gewaltigen Streitmacht trat er zum Gegenangriff an. Am 27. August 1942 stürmten seine Divisionen gegen den deutschen „Flaschenhals" von Schlüsselburg. Zwölf Kilometer tief kämpften sich die sowjetischen Divisionen nach Westen vor und kamen bis dicht an die Kirow-Bahn heran. Der „Flaschenhals" war damit bis zur Mitte eingeschnürt.
Angesichts dieser Lage blieb Manstein nichts anderes übrig, als seine Leningrad-Offensive abzubrechen und der hart bedrängten 18. deutschen Armee zu Hilfe zu kommen. In überaus harten Kämpfen gelang es Mansteins Verbänden schließlich, die Russen zurückzuwerfen.
Der September und der Oktober vergingen. Im November zeichnete sich bereits die Tragödie von Stalingrad ab. Mansteins Armee fehlte nun im Süden. Ohne daß Manstein seine Aufgabe vor Leningrad hätte erfüllen können, berief Hitler ihn und seine Armee ab. Der Feldmarschall verließ die Bühne Leningrad und verschwand südwärts. Zurück blieb Generaloberst Lindemanns 18. Armee, die sich eingrub, wahre unterirdische Städte erbaute und im übrigen darauf wartete, was nun seitens der Russen geschehen würde. Daß sich diese nach dem Abzug Mansteins die Chance, erneut operativ zu werden, nicht entgehen lassen würden, darüber war sich Lindemann klar.
Und so kam es auch. Am 12. Januar 1943, bei arktischer Kälte und Schneesturm, griff der Oberkommandierende der Wolchow-Front, General Goworow, den „Flaschenhals" von Schlüsselburg zum zweitenmal an. Ein Trommelfeuer aus über 4000 Rohren eröffnete die zweite Ladoga-Schlacht. Während die 2. russische Stoßarmee von Osten her antrat, stürmten die Divisionen der 67. Roten Armee über den Ladogasee und über die Newa gegen die deutschen Verteidiger an. Fünf Schützendivisionen und eine Panzerbrigade allein im Raum Marino-Gorodok gegen eine einzige deutsche Division, die 170. ID.
 

 
Das Ziel der zweiarmigen sowjetischen Offensive war das gleiche wie das der ersten: Durchstoß bis zur Kirow-Bahn und Einkesselung der 18. deutschen Armee.
Im Mittelpunkt dieser Kämpfe standen in erster Linie die Regimenter der 170. und 227. Infanteriedivision. Die russische Infanterie wurde schonungslos und in Massen eingesetzt, aber alle Versuche, die schwache deutsche Verteidigungsfront zu durchbrechen, waren vorerst zum Scheitern verurteilt. Zu Tausenden blieben die Sowjets im MG-Feuer der Deutschen tot oder verwundet liegen. Schwache deutsche Bataillone kämpften bis zum Umfallen gegen einen haushoch überlegenen Feind, und es sah schon fast so aus, als müßte General Goworow erneut eine furchtbare Niederlage hinnehmen. Da geschah das Unglück. Bei Marino, an der Nahtstelle zwischen der AA 240 und dem II./GR 401, gelang den Russen der entscheidende Durchbruch in die deutsche HKL (Hauptkampflinie).
Generalmajor Duchanow, der Oberbefehlshaber der 67. russischen Armee, erkannte die sich ihm bietende Chance und pumpte alles, was er an Kräften freimachen konnte, in die Durchbruchslücke. Im „Flaschenhals" von Schlüsselburg drohte das Chaos auszubrechen. Gelang es Duchanow, die Stellungen der deutschen 170. ID zu durchstoßen, dann stand er vor den beherrschenden Sinjawino-Höhen, und der Weg zur Kirow-Bahn und ins rückwärtige Gebiet der 18. deutschen Armee war für ihn frei.
 
Generaloberst Lindemann, ein illusionsloser Armeeführer, sah sich in diesem kritischen Moment gezwungen, seine einzige Reserve, die kampferprobte 96. ID - die freilich nur aus 5 Bataillonen bestand -, ins Gefecht zu werfen. Schweres feindliches Artilleriefeuer, das Tag und Nacht hindurch anhielt, und die schwierigen Geländeverhältnisse machten jedoch einen sofortigen Gegenstoß unmöglich und verzögerten diesen um ganze 24 Stunden. Anstatt schon am 12. Januar in den Kampf einzugreifen, mußte die 96. ID bis zum Morgen des 13. Januar warten.
Über dem Sumpf-, Wald- und Steppengebiet südlich von Leningrad liegt das undurchdringliche Dunkel der Januarnacht. Ununterbrochen knirschen die Räder der Lastautos und die eisernen Reifen zweirädriger Pferdewagen über die holprigen Wege und Nachschubstraßen. An den Kreuzungen stehen vermummte, vor Kälte schlotternde Verkehrsposten und winken schweigend mit ihren kleinen, abgedunkelter. Laternen.
Wie schon einmal, rollen auch heute wieder Artillerie, Infanterie und Panzer aus dem Raum Leningrad zur Newa-Front. Über Glatteis und durch metertiefe Schneeverwehungen quälen sich riesige Transportlastwagen» gepanzerte Mannschaftswagen, verhüllte Geschütze, modernste Flak (Fliegerabwehrkanonen), gedrungene T-34 Panzer und, an die Laster angekoppelt, kleine Pak (Panzerabwehrgeschütze).
Immer wieder entstehen kilometerlange Stauungen. Offiziere eilen herbei, fluchen, kommandieren. Motoren heulen auf, Peitschenschläge knallen, und auf geheimnisvolle Weise entwirrt sich die endlose Schlange wieder, strebt an bestimmten markierten Punkten in verschiedene Richtungen auseinander.
In dieser turbulenten Bewegung von Menschen, Motoren und Waffen ist eine Energie zu spüren, die sich schon bei der ersten Belagerung von Leningrad in fast übermenschlicher Ausdauer manifestierte.
Dieselben Truppenbewegungen unter nicht minder harten Witterungsbedingungen vollziehen sich zur Stunde auch im Osten der Wolchow-Front und auf dem meterdicken Eis des Ladogasees. Insgesamt drei voll- und neuausgerüstete, mit den modernsten Waffen ausgestattete Sowjetarmeen marschieren auf, um zwischen Schlüsselburg, Lipka und Sinjawino den sogenannten deutschen Flaschenhals zu durchstoßen und die deutsche 18. Armee zu vernichten. Nach Stalins Willen soll den Deutschen eine vernichtende Niederlage zuteil werden. Der Zeitpunkt hierfür ist so günstig wie noch nie zuvor. Überall im Osten ist die deutsche Front überdehnt und besteht - man schreibt den 11. Januar 1943 - aus mehr oder minder zusammengekratzten Verbänden, die zu werfen nach Ansicht des sowjetischen Oberkommandos jetzt die Stunde gekommen ist.
 
Bei Rschew, bei Welikije Luki und Demjansk, um nur einige gefährdete Frontabschnitte zu nennen, geht es um die Existenz von ganzen Armeen. Sie stehen schon seit Wochen in schweren, blutigen und verlustreichen Abwehrkämpfen und werden, darüber ist sich der STAWKA (Sowjetisches Oberkommando) im klaren, keine Hilfestellung geben können, wenn der Sturm südlich des Ladogasees losbrechen wird.
Es ist kurz nach Mitternacht, als die Lagebesprechung im Gefechtsstand der 45.Gardeschützendivision zu Ende geht (nach sowjetischen Dokumentationen).
In der Enge der Bauernkate, die Generalmajor A. A. Krasnow als Gefechtsstand dient, ist die Luft zum zerneiden dick. Der Zigarettenqualm hängt wie eine Wolke unter der niedrigen Balkendecke.
Zwei Stunden wurden dazu verwendet, Detailfragen des für den kommenden Morgen angesetzten Angriffs aus dem kleinen Brückenkopf heraus zu erörtern. Ermüdende Einzelheiten, die jedem Regimentskommandeur längst bekannt sind. Krasnow selbst, bekannt und gefürchtet wegen seines temperamentvollen Wesens, hatte die Stabsbesprechung mit einer für ihn ungewöhnlichen Sachlichkeit geführt. Außer General Krasnow ist nämlich noch ein zweiter ranghoher Offizier anwesend: Matwejew, Kriegsrat der Armee und eine der einflußreichsten Persönlichkeiten der Heeresgruppe. Er hatte sich an der Lagebesprechung und der folgenden Befehlsausgabe mit keinem Wort beteiligt, sondern war im Hintergrund geblieben, auf einer Munitionskiste sitzend, scheinbar uninteressiert zuhörend.
 
Nachdem es wirklich nichts mehr zu besprechen gibt, erwarten die Regimentskommandeure die übliche Schlußansprache des Generals. Aber es kommt anders. General Krasnow dreht sich zum Kriegsrat um, nickt diesem zu. Der steht auf und geht zum Kartentisch, legt die Hände wortlos auf die Karte, so daß die eine westlich und die andere nördlich des „Flaschenhalses" von Schlüsselburg liegt. Dann führt er beide langsam nach vorn, bis dort, wo die Stadt Mga und die Kirow-Bahn eingezeichnet sind, und vereinigt sie mit einem energischen Ruck.
Sie haben ihn verstanden: Einschließung der deutschen 18. Armee von Westen und Norden.
Als Oberst Babschenko, 38 Jahre alt und ein Hüne von Mann, von der Besprechung zurückkommt, gibt er seinem Ordonnanzoffizier den Befehl, für drei Uhr alle Bataillonskommandeure herzubeordern.
„Genosse Oberst, wir haben ein Uhr nachts", wagt der Unterleutnant einzuwenden. „Wir feiern ein Fest. Dazu ist es nie zu spät", erwidert der Oberst.
„Und nun verschwinden Sie schon."
„Zu Befehl", erwidert der Ordonnanzoffizier. Er läuft zum Nachrichtenbunker und ruft die Bataillonsgefechtsstände an.
Im engen Unterstand des Obersten sind auf einem Tisch Zeitungen ausgebreitet, auf denen einige Feldflaschen mit Wodka und statt der Gläser säuberlich aufgeschnittene, leere amerikanische Konservenbüchsen stehen.
 
Inzwischen sind alle eingetroffen. Tartajow, der Major und dienstälteste Bataillonskommandeur, mit der strengen Pünktlichkeit des alten Militärs, die anderen zwei Minuten früher oder später. Hauptmann Sipjadom, der das II. Bataillon führt, kommt als letzter mit fünf Minuten Verspätung an. Er war im Gefechtsstand noch aufgehalten worden. Bei Sipjadoms Bataillon läuft derzeit eine Sonderaktion der Pioniere, deren Ergebnis er noch abwarten wollte.
„Ich bitte wegen der Verspätung um Verzeihung", entschuldigt sich der Hauptmann.
„Schon gut", winkt der Oberst ein wenig herablassend ab. Er lädt die Kommandeure und Adjutanten ein, sich einzuschenken. Als jeder versorgt ist, sagt er:
„Genossen, ich habe Sie zu dieser ungewöhnlichen Stunde einberufen, um uns vor dem Angriff noch einmal die Gelegenheit zu geben, beieinander zu sein und uns in die Augen zu sehen. Vielleicht erleben wir nicht alle die Stunde des großen Sieges, aber die Division, unser Regiment wird sie erleben. Trinken wir darauf. Es lebe die Rote Armee. Es lebe der Sieg über die Faschisten."
Obgleich der Wodka gut und reichlich ist, will keine Stimmung aufkommen. Selbst der Oberst kommt heute nicht in Stimmung, so daß er schon nach einer Stunde zu seinen Bataillonkommandeuren sagt:
„Freunde, es ist Zeit. In wenigen Stunden geht es in den Kampf." Alle erheben sich. Er drückt jedem die Hand, und einer nach dem anderen geht hinaus.
„Was Neues?" fragt der Obergefreite Rupp um sieben Uhr zehn seinen Kameraden, den Gefreiten Ernst Doren, als er ihn im MG-Stand 9 ablöst.
Doren, durchgefroren und hundemüde, antwortet: „Was soll's schon geben? Immer dasselbe." Er packt seine MPi (Maschinenpistole), die vier Handgranaten, die er achtlos in sein Koppel steckt, das Sturmgepäck.
„Ich geh' jetzt. Wenn's Kaffee gibt, schick' ich dir eine Feldflasche nach vorn."
„Ist in Ordnung", sagt Rupp. Er beobachtet, wie das bei jeder Wachablösung Vorschrift ist, mit dem Fernglas das jenseits der Newa liegende Niemandsland, den Uferstreifen davor, den zugefrorenen, tief verschneiten Fluß. Plötzlich stutzt er. Im Glas hat er die gut erkennbaren russischen Stellungen. Merkwürdig ist das.
„He, Doren!" ruft er nach dem Kameraden, der gerade um die Grabenecke biegen will. „Komm doch noch mal her."
„Mann", sagt der widerwillig und kehrt in den MG-Stand zurück. „Was ist jetzt wieder los, Rupp? Ich bin müde, verstehst?? Müde und durchgefroren."
Rupp packt den Kameraden am Arm und deutet feindwärts.
„Was ist los bei denen? Da stimmt doch was nicht!"
„Was stimmt nicht?" fragt Doren gereizt.
„Kein Schwanz zu sehen", stößt Rupp erregt hervor. „Und die Landschaft drüben ist wie ausgestorben. Wo die doch sonst um diese Zeit ihre Morgensuppe nach vorn schleppen."
„Na ja", brummt Doren. „Vielleicht haben sie ihr Frühstück um 'ne Stunde vorverlegt. Mir ist das scheißegal."
Der Obergefreite Rupp setzt das Glas ab und blickt Doren aus zusammengekniffenen Augen forschend an.
„Doren, du hast wieder mal gepennt!" wirft Rupp seinem Kameraden vor. Dann nimmt er den Feldstecher wieder hoch.
„Nun hör schon auf!" unterbricht ihn Doren. „Ich hab' schlappgemacht. Geb's ja zu. Drei Wachen in einer Nacht. Wer hält das aus?"
Rupp hatte einen leisen Pfiff ausgestoßen. Als er jetzt sein Gesicht Doren zuwendet, ist er kreidebleich.
„Schau mal runter zum Fluß", sagt er, drückt Doren das Fernglas in die Hand und schiebt ihn dicht an die Brustwehr des MG-Standes.
Doren blickt durch das Glas. Eine, zwei Sekunden Stille. Dann treten plötzlich Schweißperlen auf seine Stirn.
„Das darf doch nicht wahr sein", stammelt er. „Fußspuren auf der Newa: Dutzende. Sie ziehen sich über den ganzen Fluß hin und enden direkt an der von der Kompanie ausgelegten Draht- und Minensperre." Noch nie hatte der Gegner einen Fuß über die Newa gesetzt. Die Sowjets verließen ihre Stellungen ebensowenig, wie es die Grenadiere des Grenadierregiments 391 (GR 391) taten. Feindseligkeiten tauschten nur die Artilleristen hüben und drüben aus.
„Glaubst du, die Russen haben in der Nacht die Minen weggeräumt?" fragt der Gefreite Doren den Kameraden kleinlaut.
„Wie soll ich das von hier aus feststellen? Hol den Feldwebel her. Der Odenbach soll sich das selber ansehen." „Ja, natürlich", murmelt Doren und hastet davon. Einige Minuten später trifft Feldwebel Odenbach im MG-Stand 9 ein, halb angezogen. Über den Strickpullover hat er sich rasch den Mantel geworfen. „Doren hat mir schon gesagt, was los ist", kommt er der Meldung des Obergefreiten zuvor. „Das Glas, Rupp!"
Ein kurzer Blick zum Fluß. Dann sagt der Feldwebel: „Kriechen Sie bis zum Steilhang vor, Rupp!" Er schnallt dem verdutzten Doren das Koppel ab und drückt das eine Ende Rupp in die Hand, während er das andere festhält. „Los, jetzt! Und vorsichtig, daß Sie nicht abrutschen."
Rupp kriecht mit vorsichtigen Bewegungen auf die überhängende Schneewächte, die sich an dieser Stelle des Steilufers gebildet hat, bis er einen Blick in die Tiefe werfen kann.
„Was sehen Sie?" ruft ihm sein Zugführer ungeduldig und vor Kälte mit den Zähnen klappernd, zu. „Komme zurück", antwortet der Obergefreite.
„Also?" fragt Odenbach, als Rupp, krebsrot vor Anstrengung, sich auf die Grabensohle gleiten läßt.
„Alle Drahthindernisse zerschnitten, Minen wahrscheinlich ausgebuddelt, und die spanischen Reiter sind auseinandergezerrt, so daß überall breite Lücken sind", meldet Rupp dem Feldwebel.
„Ist euch klar, was das bedeutet?" fragt er Rupp und Doren, während seine Wangenmuskeln heftig arbeiten. „Die Russen greifen heute an!" „Das kommt mir auch so vor, Herr Feldwebel", pflichtet Rupp ihm bei. „MG schußklar halten und Augen auf!" ermahnt Odenbach den Obergefreiten. „Und wenn's wirklich losgeht, Rupp, Nerven behalten! Rankommen lassen bis auf zweihundert Meter. Dann erst reinhalten. So, und jetzt muß der Chef verständigt und das Bataillon benachrichtigt werden. Doren, Sie alarmieren inzwischen die Züge, aber dalli, Mann."
Doren rennt los und spürt mit einem Male keine Müdigkeit mehr. Außerdem ist er heilfroh, daß der Feldwebel nicht gefragt hat, wieso die Spuren nicht schon eher entdeckt wurden. Kurz darauf hat er den ersten Bunker erreicht, reißt die Tür auf und brüllt hinein: „Alarm! Alarm!"
Fünf Minuten später gellen die Trillerpfeifen im gesamten Verteidigungsabschnitt des I. Bataillons GR 391, das zur 170. Infanteriedivision gehört. Diese hat mit der Masse ihrer Verbände den Newa-Abschnitt zwischen Dubrowka im Süden und Marino im Norden zu verteidigen.
 
Weitere sieben Minuten später - es ist sieben Uhr fünfunddreißig wird die Morgenstille an der Newa-Front, im „Flaschenhals" von Schlüsselburg, von einem gewaltigen Donnerschlag zerrissen.
4300 sowjetische Geschütze aller Kaliber nehmen die Verteidigungsstellungen der 170. und 227. deutschen Infanteriedivision unter Beschüß, die jeweils nur ganze 15 km lang sind. Das bedeutet für einen Streifen von sechs Metern ein russisches Rohr. Es ist ein Stahlgewitter, wie es die Landser hier oben im Norden seit Beginn des Krieges noch nicht erlebt haben.
Die Welt südlich des Ladogasees versinkt in Feuer, Rauch, Explosionsblitzen und hochgeschleuderten Eis- und Schneemassen. Über 700 „Stalinorgeln" (Raketengeschütze) unterstützen die russische Artillerie, und die sowjetischen Kriegsschiffe im Hafen von Leningrad feuern unentwegt ihre Breitseiten ab. Das tiefverschneite, frostklirrende Land wird umgepflügt und in eine krachende, berstende Hölle verwandelt.
Zwei Stunden und zwanzig Minuten dauert dieser Feuerorkan, mit dem die Sowjets die 3. Ladoga-Schlacht eröffnen.
„Diesmal wird's ernst", sagen die Männer der 170. und 227. Infanteriedivision, die wehrlos in ihren Kampfständen, Stützpunkten und Bunkern dem russischen Trommelfeuer ausgesetzt sind.
Es sind zumeist gute, tief in die Erde eingelassene Bunker. In anderthalb Jahren Leningrad- und Wolchow-Krieg sind ganze unterirdische Städte entstanden, haben sich die Grenadiere der beiden Infanteriedivisionen wie Maulwürfe in den Boden gewühlt.
Die Russen wissen das. Deshalb haben sie ihre ganze verfügbare Artillerie in diesem Abschnitt zusammengezogen, um die deutschen Stellungen zu zerschlagen. Sie leisten ganze Arbeit und verlegen die Feuerwalze bis tief ins deutsche Hinterland. Es gibt keine deutsche Batterie, die nicht unter schwerstem Beschuss liegt, keinen Befehlsstand, der vom Feuerorkan verschont bleibt. Sogar die Querverbindungen und Anmarschwege des XXVI. (26.) deutschen Armeekorps werden systematisch mit einem Hagel von Granaten belegt.
Innerhalb kürzester Zeit sind die meisten Telefonverbindungen zerstört. Die Störungssucher sausen los und versuchen, zumindest die aller wichtigsten Fernsprechverbindungen wiederherzustellen. Ein hoffnungsloses Unternehmen. Da helfen weder Einsatzwille noch Kühnheit. Der Mensch wird zum hilflosen Wesen, das zusehen muß, wie die entfesselte Technik mit grandioser, fast mathematischer Gründlichkeit all das zerstört, was Menschenhände in Wochen und Monaten aufgebaut hatten.
Hinter der Wand aus Feuer und Eisen stehen die russischen Angriffsdivisionen sprungbereit. Im Osten Generalleutnant W. S. Romanowskis 2. sowjetische Stoßarmee mit sieben Schützendivisionen und einer Panzerbrigade. Die deutsche Verteidigungsfront ist zirka 13 Kilometer breit und wird von der verstärkten 227. Infanteriedivision (227. ID) unter General von Scotti verteidigt. Aus dem Westen - der Leningrad-Front -greift General Duchanows 67. Armee an. Ihr gegenüber liegt die von General Sanders befehligte 170. Infanteriedivision.
Das Operationsziel der Sowjets ist für die deutsche Führung kein Geheimnis: Die Russen werden diesmal mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln versuchen, den „Flaschenhals" von Schlüsselburg, der die russische Landverbindung nach Leningrad unterbindet, einzudrücken, um dann gemeinsam nach Süden bis zur Kirow-Bahn durchzustoßen.
Die angelaufene Operation der Sowjets ist nicht die erste dieser Art. Schon zweimal haben sie gewaltige Anstrengungen unternommen, den deutschen Sperrriegel zu sprengen. Beide Offensiven scheiterten unter blutigen Verlusten.
Was die jetzige Offensive von den anderen unterscheidet, ist lediglich die Tatsache, daß es den Russen gelungen ist, den riesigen Aufmarsch ihrer Truppen zu verbergen bzw. zu verschleiern. Das Überraschungsmoment ist auf ihrer Seite.
Um den Obergefreiten Rupp bricht die Hölle los. Einschlag liegt neben Einschlag. Der Lärm der explodierenden Geschosse ist eine körperliche Marter ohnegleichen. Der Obergefreite liegt auf der Grabensohle und preßt die Fäuste an die Ohren. Das Getöse ist kaum auszuhalten.
Granaten zerhacken die Erde, fetzen in den betonhart gefrorenen Boden. Die Splitter klirren gegen die Grabenwände, dringen oft gar nicht durch und sausen als gefährliche Abpraller kreuz und quer durch die Gegend.
Das ist kein gewöhnlicher Feuerüberfall, sondern der Auftakt zu einer furiosen Vernichtungsschlacht.
Die Minuten dehnen sich zur Ewigkeit. Und die Landser in den Gräben, Bunkern, MG-Ständen und Vorpostenlöchern denken immer dasselbe: Es muß doch einmal aufhören. Doch der Feuerorkan nimmt an Heftigkeit nicht ab, im Gegenteil, er steigert sich von Minute zu Minute.
Der Verteidigungsbereich des I. Bataillons liegt jetzt unter dem Beschuss mehrerer „Stalinorgel"- Batterien. Die heulenden, ungleichmäßig und mit fürchterlichem Jaulen einschlagenden Raketen sind schlimmer als die größten Artilleriebrocken; sie entnerven einen Mann, lassen ihn beben vor Angst.
Nach vierzig Minuten verschiebt sich die sowjetische Feuerwalze ostwärts in Richtung Gorodok, Elektrizitätswerk, Ringstraße bis hinüber in den Abschnitt des Grenadierregiments 401 (GR 401) und bis zu den Sinjawino-Höhen.
Das in Hunderten von Schlachten geschulte Ohr der Grenadiere erkennt sofort, wenn das feindliche Feuer zurückverlegt wird; selbst wenn diese Verschiebung nur unmerklich und raffiniert, verschleiert (Einsatz starker Granatwerferverbände auf die vorderste HKL) geschieht.
 

   

 
Das ist der Augenblick, in dem der feindliche Angriff zu erwarten ist. Wehe dem Landser, der nicht rechtzeitig hinter dem MG, hinterm Gewehr liegt. Die Russen kommen schnell, sehr schnell. Und mancher Soldat, der das Artilleriefeuer heil überstanden hat, büßt sein Leben ein, weil er vom Feind überrascht wird.
Der Obergefreite Rupp kennt die Gefahr. Er reißt sich zusammen, schüttelt Dreck und Schnee ab und kauert sich hinter das MG, das den Feuersturm wie durch ein Wunder heil überstanden hat. Durchladen l Hebel auf Dauerfeuer! Und nun ein Blick durch die Sichtblende.
Im gleichen Augenblick schlägt unmittelbar vor dem MG-Stand ein Geschoß in den Boden. Der Luftsog der explodierenden Granate schleudert den Obergefreiten gegen eine Munitionskiste.
Ein zweiter, brüllender Einschlag, dicht neben dem ersten. Der MG-Stand geht in Fetzen. Die Balken werden hoch in die Luft geschleudert.
„Ratsch-Bumm!" registriert Rupp mechanisch. Das kurze, fauchende Geräusch des rasanten Geschosses ist unverkennbar. Sie greifen an!
Als Rupp sich mit starken Schmerzen im Rücken aufrichtet, stürzt Unteroffizier Eppler, sein Gruppenführer, in den MG-Stand. Er brüllt dem Obergefreiten etwas zu, das dieser nicht verstehen kann. „Ich bin wie taub!" schreit der Obergefreite zurück. Eppler, mit hochrotem und schweißbedecktem Gesicht, jagt an Rupp vorbei, reißt das Maschinengewehr hoch, das am Boden liegt, und befreit es von den schützenden Lumpen. Sie wurden um das Schloß gewickelt, um ein Einfrieren desselben zu verhindern. In diesem Moment gibt es eine fürchterliche Explosion. Volltreffer!
„Deckung!" schreit Rupp.
Dann sieht er, wie der halbe MG-Stand auf ihn zukommt, Schnee- und Eismassen, die auf ihn herabstürzen und ihn zu begraben drohen, Rupp kennt solche Situationen. Er rudert wild mit Armen und Beinen, und es gelingt ihm, sich aus dem Dreck- und Balkengewirr zu befreien. Halb blind kriecht er einige Meter nach vorn, wo noch vor wenigen Sekunden die Brustwehr war. Die russische Granate hat sie abrasiert, die Erde ist wie eingeebnet.
Der Unteroffizier ist tot. Von Granatsplittern durchsiebt, liegt er blutend im Schnee und hält mit seinen Fäusten das Maschinengewehr fest. Da taucht plötzlich Feldwebel Odenbach im zertrümmerten MG-Stand auf. Er übersieht mit einem Blick die Situation. Er zerrt die Leiche aus dem MG-Stand. Zwei Landsern der 2. Gruppe, die eben durch den Stichgraben stürzen, ruft er zu: „Schafft den Toten weg!"
In den engen Stellungsgräben und Kampfständen ist weder Platz für Verwundete noch für Tote. Das Hauptkampffeld muß frei sein. Das mag unmenschlich erscheinen, aber oft kam es vor, daß die in die Gräben eingedrungenen Rotarmisten eigene und deutsche Tote als Kugelfang vor sich auftürmten und als Deckung benutzten. Als Feldwebel Odenbach in den MG-Stand zurückkommt, lehnt Rupp
mit kreidebleichem Gesicht da. Er steht noch unter der Schockeinwirkung, das ist deutlich zu erkennen.
„Rupp, reißen Sie sich gefälligst zusammen! Das MG in Stellung!"
Odenbachs befehlsgewohnte Stimme und seine entschlossene Miene dulden keinen Widerspruch und auch keine Schwäche. Rupp überwindet sein Entsetzen, packt das MG und bringt es an die von Feldwebel Odenbach bezeichnete Stelle.
„Glauben Sie nur nicht, Rupp", sagt Odenbach, während er eilig Schnee- und Eisklumpen mit den bloßen Händen wegräumt, um dem MG das nötige Schußfeld zu geben, „daß mir so etwas nicht auch an die Nieren geht. Aber wir dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren!"
„Tut mit leid, Herr Feldwebel", sagt Rupp, „aber ich konnte den Anblick..."
„Schon in Ordnung." Odenbach klopft dem bewährten Kameraden begütigend auf die Schulter. „Einmal dreht jeder durch. Mir ging's nicht anders. Aber jetzt aufpassen, die Russen werden gleich da sein. Ich schicke Ihnen Doren als Schütze zwei, klar?"
„Ja, das wäre gut", antwortet Rupp, während Odenbach davonstürzt.
Gegen alle Erwartungen bleibt der Sturm auf die vorderste HKL des GR 391 noch aus. Zwar haben Sowjets in Bataillonsstärke das Eis der Newa überschritten und sich bis an die Drahthindernisse am diesseitigen Newa-Ufer herangearbeitet, den letzten Schritt, die Überwindung des Steilufers, tun sie jedoch nicht.
Diese Verhaltensweise hat einen besonderen Grund.
Obwohl General Duchanow, der Oberkommandierende der 67. Armee, von der Wirkung seines schweren Vernichtungsfeuers überzeugt ist, geht er dennoch auf Nummer Sicher. Er spielt eine zweite Trumpfkarte aus: seine Jagd- und Schlachtfliegerverbände. Er läßt die Geschwader genau in dem Augenblick los, als die Landser in dem Glauben, das Artilleriefeuer glücklich überstanden zu haben, erleichtert aufatmen.
Ratas russische Jagdflugzeuge) und Il-2-Sturmgruppen von fünfzehn bis zwanzig Maschinen brausen, von Nordosten kommend, auf die Verteidigungsstellungen der 170. ID zu. Rata-Jäger greifen die deutschen Stellungen im Sturzflug an und feuern aus allen Waffen, während die russischen Schlachtflugzeuge so tief über die deutschen Stellungen hinweghuschen, daß sie mitunter von der Druckwelle ihrer eigenen Bombenexplosionen hochgeschleudert werden.
Sie werfen Spreng- und Splitterbomben, große und kleine. Dreißig Minuten dauert der Bomben- und Bordwaffenangriff der sowjetischen Maschinen auf den „Flaschenhals" von Schlüsselburg. Als die russischen Jagd- und Schlachtfliegerverbände dann abdrehen und in nördlicher Richtung verschwinden, hinterlassen sie eine Trümmer- und Kraterwüste.
Nach diesem Luftangriff liegt die deutsche Verteidigungsfront in einer Art Agonie. Zuerst das furchtbare, alles zertrümmernde Artilleriefeuer und jetzt der Bombenangriff. In den deustschen Stellungen herrschen Chaos, Verwirrung. Es gibt keinen Abschnitt im deutschen Verteidigungssystem, der nicht einer Mondlandschaft gliche.
Zu diesem Zeitpunkt gibt General Duchanow den Angriffsbefehl.
Die russischen Sturmregimenter gehen vor. Dutzende roter und grüner Leuchtsignale steigen am jenseitigen Newa-Ufer hoch.
Der Obergefreite Rupp starrt hinter seinem MG 42 mit zusammengekniffenen Augen auf das Eis der Newa hinab. Neben ihm liegt der Gefreite Doren.
„Mann, sieh dir das bloß an", sagt dieser mit beklommener Stimme und tief beeindruckt von dem Bild, das sich ihnen bietet.
Die Rotarmisten kommen in dichten Angriffswellen über den Fluß, Hunderte, Tausende. Ohne Deckung nähern sie sich lautlos den deutschen Stellungen.
„Die glauben bestimmt, wir sind kaputt", wendet sich Doren an den
Kameraden.
E s sind die Regimenter der sowjetischen 13. und 45. Schützendivision, die im Vertrauen auf die vernichtende Feuerkraft der eigenen Artillerie und Schlachtflugzeuge angreifen.
Rupp, den Finger am Abzug, das MG auf Dauerfeuer eingestellt, macht unwillkürlich Zielübungen.
Die Hälfte des Flusses haben die russischen Bataillone inzwischen hinter sich gebracht. Auf deutscher Seite fällt kein Schuß.
„Noch 500 Meter", sagt der Gefreite Doren. Rupp nickt bestätigend.
Er ist plötzlich derart nervös, daß ihm der Schweiß ausbricht; obwohl es so kalt ist, daß der Atem vor dem Mund gefriert.
Dann ist mit einemmal Feldwebel Odenbach im MG-Stand. Er ist abgehetzt und quetscht sich zwischen Rupp und Doren. Er schaut durch
das Glas.
Auch Odenbach, den so leicht nichts beeindrucken kann, ist perplex. Abgesehen von der Tatsache, daß hier mindestens zwei Regimenter angreifen, fasziniert ihn noch etwas anderes: Die ersten russischen Angriffsreihen tragen keine Stahlhelme, sondern Tellermützen. Odenbach kann dies durch sein scharfes Zeissglas deutlich erkennen.
Er setzt das Glas ab und reicht es dem Obergefreiten Rupp.
„Schauen Sie mal durch", fordert er diesen auf. „Das sind doch Matrosen, die da übers Eis stürmen. Oder täusche ich mich?"
„Stimmt, Herr Feldwebel!" bestätigt Rupp.
In der Tat, die ersten Angriffsreihen der Russen bestehen aus Bataillonen von Rotbanner-Matrosen der Baltischen Flotte. Sie sind eine Elite-Einheit der Roten Armee und haben freiwillig die Spitze übernommen. Voraus gehen die Bataillonskommandeure mit gezogenen Pistolen. Neben ihnen die Fahnenträger. Dahinter kommen die Pioniere, die Sprengtrupps, Minenräumspezialisten und Flammenwerferkompanien.
Noch 500 Meter, 400,300. Die Deutschen verhalten sich noch immer still. Kein MG tackert, kein Granatwerfer ploppt.
 
Schon steigen die ersten „Urrä"-Schreie auf, pflanzen sich durch die Reihen fort und schwellen zu einem gewaltigen Chor an.
„Urrää - Urrää - Urrää!"
In dem felsenfesten Glauben, der Widerstand der Deutschen sei durch den Feuerorkan der sowjetischen Artillerie und Schlachtflieger zusammengebrochen, werden die russischen Sturmregimenter von einer Euphorie erfaßt, die sie jede Vorsicht vergessen läßt. Sie ahnen nicht, daß sie mitten ins Verderben rennen.
„Noch zweihundertfünfzig Meter, Herr Feldwebel", mahnt der Obergefreite Rupp seinen Zugführer.
Odenbach nickt und schiebt eine grüne Leuchtpatrone ein.
„Zweihundert Meter", sagt neben ihm Rupp, den Zeigefinger am Abzugsbügel.
Da hebt Feldwebel Odenbach den rechten Arm und knallt die grüne Leuchtrakete, das Signal für „Feuer frei", aus dem Lauf.
Fast zur gleichen Zeit zischen Hunderte von Leuchtzeichen in den Morgenhimmel, und schlagartig setzt das rasende Tackern der Maschinengewehre, das Floppen der Granatwerfer und das Rauschen und Fauchen der Artilleriegeschosse ein.
Die deutschen Waffen hämmern in die Angriffsreihen der Rotbanner-Matrosen und mähen sie nieder. In Minuten bilden sich auf dem Fluß wahre Berge von gefallenen Soldaten. Dennoch stürmen die Nachfolgenden weiter, steigen über die Leichen hinweg,'bis auch sie, vom Geschoßhagel erfaßt, verwundet oder tot zu Boden sinken.
Manchmal sieht es so aus, als würden die Sturmregimenter in Panik geraten. Da und dort flitzen die Kompanien auseinander oder ballen sich ängstlich zusammen, aber immer wieder gibt es entschlossene Offiziere, Kommandeure, die rücksichtslos durchgreifen und die Rotarmisten vorantreiben.
„Urrä Urrä!"
Sie rennen weiter, fanatisch und gehorsam, bis auch sie der Tod erteilt.
Die Unterschätzung des Gegners und die Überschätzung des eigenen Artilleriefeuers kosten die Sowjets an diesem Morgen des 12. Januar 1943 Tausende von Toten und Verwundeten.
Ein kleines Häuflein deutscher Landser, bestehend aus den Resten der Grenadierregimenter 391 und 401 und der Aufklärungsabteilung 240 bei Gorodok, stoppt die rote Flut.
Die in der vergangenen Nacht vom Gegner mit großer Kühnheit durchgeführten Minenräumungen sind umsonst gewesen. Nicht eine Angriffswelle erreicht das deutsche Ufer. Nur ein paar ganz verwegene Rotarmisten arbeiten sich bis zu den Drahthindernissen durch, aber auch sie geraten ins Punktfeuer der deutschen Schützen und verbluten zwischen durchgeschnittenen Drahtrollen und aus dem Schnee gebuddelten Minen.
Nachdem die dritte, die vierte und auch die fünfte Angriffswelle im Räume Gorodok und Marino zusammengeschossen ist, erlahmt die Kraft der sowjetischen Sturmregimenter zusehends.
 
Da hilft es auch wenig, daß der russische Battalionskommandeur, Major Psjol, mit letzter Energie das Blatt zu wenden versucht und — die aussichtslose Lage sehr wohl erkennend - einem seiner Ordonnanzoffiziere den Befehl gibt: „Telefonisten nach vorn. Wir brauchen Artillerieunterstützung!" Nach Gefangenenaussagen rekonstruierte Vorgänge.
Der junge Unterleutnant, einer der letzten noch lebenden Offiziere des 333. Gardeschützenregiments, rennt in den Kugelhagel der deutschen MG zurück, um einen Mann mit Tornisterfunkgerät zu erreichen. Doch es gibt weit und breit kein solches Gerät. Man hatte keines mitgenommen. Wozu auch? Seitens der russischen Führung war man der festen Überzeugung, daß der Einbruch in die deutsche HKL gelingen würde. Dann hätte die Artillerie immer noch Zeit genug gehabt, Telefonleitungen zu den vorgeschobenen Beobachtern zu legen.
„Dann hol Pak heran", befiehlt Major Psjol dem Unterleutnant, als dieser ihm von der Ergebnislosigkeit seiner Bemühungen berichtet.
Der Unterleutnant rennt zum zweiten Mal los. Aber die Sturmregimenter haben auch keine Pak mit.
Da packt den Major der Zorn. Er schafft es mit Flüchen und Befehlen, an die siebzig Mann zusammenzubringen, setzt sich an ihre Spitze und
greift wieder an.
Der Sturmversuch endet nach zweihundert Metern im Geschoßhagel der Maschinengewehre der Aufklärungsabteilung 240 (AA 240) vor dem Krankenhaus von Gorodok.
Als der Major die Aussichtslosigkeit seines Unternehmens erkennen muß und seine Männer tot oder schwer verwundet zu Boden stürzen, jagt er sich eine Kugel durch den Kopf.
Der einzige Überlebende dieses Unternehmens, der junge Unterleutnant, selbst mehrfach verwundet, streckt die Arme in die Höhe und torkelt auf die deutschen Linien zu. Völlig verstört wird er von den Männern der AA 240 gefangengenommen.
Nachdem die Sturmdivisionen von General Duchanows 67. Armee bei Gorodok und Marino keinen Fußbreit Boden gewinnen konnten, setzt die sowjetische Führung ihre ganzen Hoffnungen auf den Dubrowka-Abschnitt.
 
Im Zeitraum vom 20.7.1942 bis 15.9.1942 wurde mein Großonkel Otto Walter Friedrich dem Grenadier Regiment 399 unterstellt.
Vom 16.9.1942 bis 8.7.1943 wurde er wegen Gelbsucht ins Reservelazarett Bad Harzburg und  danach ins Reservelazarett Tapiau überstellt. Nach Genesung wurde er der 1.Genesendenkompanie Grenadier Ersatz Battailon 47 überstellt.
Ab den 24.7.1943 kam mein Großonkel wieder zurück zum Grenadier Regiment 399 vor Leningrad.
Seit dem 18.1.1944 ist mein Großonkel verschollen.  
 
Dubrowka, nur 10 km südlich von Gorodok gelegen, wird zur Stunde von der 45. Gardeschützendivision des Generalmajors Krasnow angegriffen.
Ihr gegenüber liegt das 399. Grenadierregiment (GR 399) der 170. Infanteriedivision (170. ID). Es weist ein Drittel der von den Russen eingesetzten Kampfstärke auf.
Im Dubrowka-Abschnitt liegen die Dinge anders als bei Gorodok oder Marino. Dort trennt die Newa Russen und Deutsche voneinander. Hier aber sind die Linien verzahnt, greifen ineinander über, seit die Sowjets im November 1942 ostwärts der Newa einen kleinen Brückenkopf bilden konnten.
„Totenecke" nennen die Soldaten des GR 399 diesen Abschnitt. Und das zu Recht, denn dieses Stück russischer Erde ist übersät mit Toten. Sie liegen zu Hunderten, ja zu Tausenden herum. Niemand kann sie bestatten, und dort, wo man es dennoch versuchte, wurden die Leichen durch das beiderseitige Artilleriefeuer wieder ans Tageslicht befördert. Die Gegner liegen sich nur auf dreißig, vierzig Meter gegenüber.
Angesichts dieser Lage blieb dem Kommandeur des GR 399, Oberst Griesbach, keine andere Wahl, als seinen Verteidigungsabschnitt besonders tief zu staffeln, Hunderte von engen Gräben anzulegen, die MG-Stände und Kampfbunker zu verdrahten und zu verminen, das ganze Stellungssystem in kleine, aber kampfstarke Stützpunkte aufzuteilen.
Zwischen den einzelnen Widerstandsnestern haben die Regimentspioniere raffinierte Minenfallen angelegt, und wehe dem Unkundigen, der in eine solche gerät. Auch gut versteckte Flammenwerfer - elektrisch gezündet - bringen dem Angreifer Tod und Verderben.
Dubrowka wurde in monatelanger Winterarbeit zu einem „Teufelsgarten" Rommeischer Art  ( Gemeint sind die Minenfelder vor El Alamein ) verwandelt, der die Russen das Fürchten lehrte.
Dutzende Male versuchten die Sowjets den Sperrriegel des GR 399 aufzubrechen. Sie kamen mit Stoßtrupps. Bei Tag und auch bei Nacht. Immer wieder rannten sie verbissen an. Umsonst. Sie fielen im Nahkampf, wurden von Minen zerrissen, endeten im Glutstrahl der Flammenwerfer. Diese Gefallenen gaben dem Dubrowka-Abschnitt schließlich den Namen „Totenecke".
Als die Sowjets mit Infanterie nicht durchkamen, setzten sie Panzer ein. Die T 34 schafften es auch nicht. Sie würden von der 7,5-cm-Pak abgeschossen. Und was diese nicht erledigte, vollendeten die Nahkampftrupps des GR 399.
Noch jetzt liegen die ausgeglühten Panzerwracks vor, in und auf den Gräben des GR 399. Die Grenadiere hatten sie zu unüberwindbaren Kampfständen ausgebaut, und in den Wracks sitzen auch die VB (vorgeschobene Beobachter) der Artillerie oder vorgeschobene Gefechtsstäbe.
Da man in die T 34 von außen, also von oberhalb der Erde, nur schwer kommen kann, hatten die Pioniere Stichgräben zu den Panzerwracks vorgetrieben und mit Schweißbrennern Einstieglöcher in die Bodenwanne geschnitten. Die Rotarmisten, denen die T 34 selbstverständlich ein Dorn im Äuge waren, wußten nie, wann die Panzerwracks besetzt waren. Dann und wann holten sie Pak heran und veranstalteten ein wüstes Scheibenschießen auf die Panzer. Sie brachten auch Treffer an, aber mittlerweile hatten die lästigen „Untermieter" längst ihre stählerne Wohnung geräumt und waren in den tiefen Gräben verschwunden. Neben den zahlreichen Minenfallen stellten die eigentlichen Minenfelder ein Problem ganz besonderer Art dar. Im Laufe der Zeit hatten fünf verschiedene Einheiten Minen verlegt. Die Skizzen hierfür existierten nicht mehr, so daß weder Freund noch Feind wußten, wo Minen vergraben waren. Oberst Griesbach hatte aus diesem Grund den gesamten Regimentsabschnitt zum „minenverseuchten Gebiet" erklären lassen.
Das also ist das Gelände, in dem Generalmajor Krasnows Gardeschützen angreifen sollen.
Eine halbe Stunde vor dem Beginn der Offensive gibt der russische Divisionskommandeur seine HKL für die eigene Artillerie frei. Die Infanterie räumt blitzschnell ihre Stellungen, und als der letzte Mann in Sicherheit ist, gibt Krasnow den „Feuerbefehl"!
Aber sein Gegenspieler, Oberst Griesbach, zeigt sich der Lage gewachsen. Da der Regimentskommandeur des GR 399 mit einem massierten Artillerieeinsatz des Gegners rechnen mußte, hat er entsprechende Vorkehrungen getroffen.
Es gibt für den X-Fall einen Alarmplan. Dieser sieht vor, daß sich die vorderste Linie innerhalb weniger Minuten in weiter zurückliegende und längst vorbereitete Ausweichstellungen absetzt.
In vielen Probealarmen wurde dieses Absetzen aus der vordersten HKL geübt. Jeder Grenadier weiß, wohin er rennen muß, er kennt jede Grabenbiegung.
Generalmajor Krasnows Absicht, die Deutschen mit einem furiosen Feuerschlag kalt zu erwischen, schlägt dank der Vorsorge eines deutschen Regimentskommandeurs fehl.
Als an allen Frontabschnitten im „Flaschenhals" von Schlüsselburg schlagartig das russische Artilleriefeuer einsetzt (freilich mit anderthalbstündiger Verspätung, so daß das GR 399 längst gewarnt ist), wird beim GR 399 der Alarm ausgelöst. Ohne einen einzigen Mann zu verlieren, wird die vorderste HKL geräumt.
Die russische Artillerie verschießt im Abschnitt Dubrowka an diesem Morgen des 12. Januar 1943 insgesamt 7 000 Granaten von mittlerem und schwerem Kaliber. In Feuerwalzen wird das Gelände umgeackert, und schon nach wenigen Minuten ist nicht mehr zu erkennen, wo einmal Deutsche und wo Russen gelegen haben.
Genau 45 Minuten dauert der russische Feuerorkan, dann läßt Krasnow seine 45. Gardeschützendivison los.
Drei gutausgerüstete und kampferfahrene Garderegimenter treten zum Sturm gegen die Stellungen des GR 399 an, eine wogende Menschenlawine, die Furcht und Schrecken verbreiten soll.  
 

Die zerschossenen deutschen Stellungen werden erreicht. Die Rotarmisten suchen den Nahkampf und finden leere Gräben. Und dann wummern die ersten Explosionen: Minen! Die Artilleriefeuerwalze hatte Hunderte von Minen in die Luft gejagt. Aber es sind noch genug übriggeblieben, und die Gardisten rennen in den Tod. Ganze Kompanien sterben, .ehe sie überhaupt den Feind zu sehen bekommen.
Die das Glück haben, auf keine Mine zu treten, zögern jetzt. Aber neue Befehle treiben die russischen Soldaten nach vorn. Über die zerfetzten Leiber stürmen sie weiter vor.
Den Grenadieren des GR 399 wird die Kehle trocken, als sie diese Massen ankommen sehen. Doch sie behalten die Nerven, warten, lauern in Gräben und Kampf ständen, den Finger am Abzug der Waffe.
Einer der zahlreichen vorgeschobenen Stützpunkte im Verteidigungsabschnitt des GR 399 - ein
sogenannter Wellenbrecher - ist der Stützpunkt „Liesel". Er ist von 23 Mann und einem Unterführer besetzt. Befehligt wird der kleine Haufen von Feldwebel Bockholt.
Stützpunkt „Liesel" liegt 200 Meter hinter der vordersten und mittlerweile geräumten HKL. Er besteht aus zwei Kampfständen, die durch mehrere Gräben miteinander verbunden sind.
In einem der Kampfstände steht Feldwebel Bockholt hinterm Sehschlitz und blickt angespannt vor zu B 4, das ist eine jener raffiniert angelegten Minenfallen, ein Stückchen „Teufelsgarten". Er besteht aus fünf strahlenförmig auseinanderlaufenden Stichgräben, in der Mitte ein MG-Bunker, der zur Rundumverteidigung eingerichtet ist. Die Lage von B 4 ist absichtlich so exponiert gewählt worden, damit die Minenfalle vom Gegner nicht übersehen werden kann.
Seitlich abgesetzt davon, in einer Entfernung von etwa 80 Metern, liegt der Gefreite Fuchs mit einem MG 42. Seine Aufgabe ist es, durch kurze Feuerstöße eine besetzte Stellung vorzutäuschen, die Russen „anzulocken". Zu Feldwebel Bockholt hat Fuchs Sichtverbindung. Erst auf Bockholts Zeichen darf der Gefreite das Feuer eröffnen.
Aber noch ist es nicht soweit. Der stürmische Angriffsfluß ist etwas ins Stocken geraten, die russischen Kompaniechefs haben offenbar Mühe, ihre Männer in der Trichterlandschaft zusammenzuhalten.
Doch dann ist plötzlich eine ganze Kompanie russischer Gardeschützen da. Voraus ein Offizier. Er hat den deutschen Kampfstand ausgemacht, winkt jetzt seine Züge ein, brüllt Befehle.
Feldwebel Bockholt liegt mit dem Glas hinter der Grabenwehr und läßt die Russen keine Sekunde aus den Augen. Einige Trupps springen jetzt in die vordersten Gräben. Da gibt Feldwebel Bockholt das Zeichen zur Feuereröffnung.
Fuchs läßt sein MG rattern, streut mit kurzen Feuerstößen das Gelände um B 4 herum ab, wobei es weniger darauf ankommt, daß er den Gegner trifft, als vielmehr darauf, Widerstand vorzutäuschen.
Die Rotarmisten spritzen auseinander, zwei Russen bringen ein MG in Stellung, feuern in den Kampf stand, während ein Trupp Gardeschützen mit „Urrä" in einen Stichgraben eindringt und sich mit Handgranaten einen Weg bahnt. Auch der sowjetische Offizier ist plötzlich wieder da. Seine Kommandos übertönen den Gefechtslärm, bringen Bewegung in die angreifenden Russen.
Es sind an die siebzig Mann, die schießend in B 4 eindringen und zunächst offenbar gar nicht mitbekommen, daß sie in einer verlassenen Stellung kämpfen.
„Zünden!" befiehlt da Feldwebel Bockholt dem Pionierobergefreiten Schmidke, der mit einem Druck die elektrische Zündanlage betätigt.
34 Schützenminen - von den Pionieren 30 cm über der Grabensohle in den Schnee verlegt - gehen mit einer gewaltigen Explosion in die Luft. Die Splitterwirkung ist verheerend. Die in B 4 eingedrungenen Rotarmisten haben keine Überlebenschance.
Minutenlang hängt eine riesige Wolke aus Schneestaub über der Sprengstelle. Als sie sich schließlich verflüchtigt und den Blick freigibt, gleicht der Kampfstand einer Mondlandschaft, in der die Stille des Todes herrscht.
Während in diesem Abschnitt die Gefahr für das GR 399 gebannt scheint, gelingt es den Russen - trotz des minenverseuchten Gefechtsfeldes -, am linken Regimentsflügel mehrere Einbrüche zu erzielen. Divisionsartillerie und schwere Granatwerfer nehmen den Gegner unter Feuer. Und dann kommt der Befehl zum Gegenstoß. Er wird ausgelöst durch das Leuchtzeichen: grün-weiß-grün.
Mit aufgepflanztem Seitengewehr, mit dem Spaten in der Faust, werfen sich die Grenadiere des GR 399 den sowjetischen Gardeschützen General Krasnows entgegen. Es entbrennt ein Kampf, wie ihn die Landser im Norden der Ostfront noch nie erlebt haben.
Wie eine Springflut in Tausende von kleinen Rinnsalen ausläuft, so versickern die russischen Sturmbataillone im tiefgestaffelten Verteidigungsfeld des Grenadierregiments; wobei die Deutschen einen gewissen Vorteil haben, weil sie das Gelände kennen, während die Rotarmisten verzweifelt bemüht sind, sich in dem Grabenlabyrinth zurechtzufinden.
Zu spät erkennen die Russen, daß sie in eine tödliche Falle gerannt sind. Wutentbrannt schießen, hauen und stechen sie um sich. Sie sterben zu Hunderten im MG-Feuer der Deutschen, fallen im gnadenlosen Nahkampf. Die Gräben füllen sich mit den Leibern der Toten.
In weniger als fünfundzwanzig Minuten wird beispielsweise das II. Bataillon Gardeschützenregiment 333 fast völlig aufgerieben. Die 4. Kompanie dieses Bataillons besteht nur noch aus siebenunddreißig Mann. Der Kompanieführer, Oberleutnant Konjukow, liegt mit einem Brustschuß im Schnee. Schon vom Tod gezeichnet, rafft er sich auf und versucht seine Gardeschützen anzuspornen.
Es ist umsonst. Die Rotarmisten, von Entsetzen und Grauen geschüttelt, mit Maschinenpistolenfeuer und Handgranatenwürfen eingedeckt, weichen zurück.
Ein ganzes Bataillon gerät in Verwirrung und Panikstimmung. Die Überlebenden laufen zurück, jagen durch die von der Artillerie zertrommelten Gräben.
Weit kommen sie allerdings nicht. Hauptmann Sipjadom, der Bataillonskommandeur, stellt sich ihnen in den Weg.
 
Doch zu diesem Zeitpunkt starten die deutschen Grenadiere aus der Tiefe des Verteidigungsraumes heraus einen Gegenstoß.
Es sind nicht viele, aber es handelt sich um erfahrene Grabenkämpfer. Mit der blanken Waffe stürmten sie heran. In erbitterten Nahkämpfen drängten sie die Russen noch ein weiteres Stück in Richtung Newa-Ufer zurück.
Über eine Stunde lang müssen sich die Gardeschützen, die sich in drei Kampfständen festgesetzt haben, verzweifelt und unter großen Verlusten der wütend vorgetragenen Angriffe der Deutschen erwehren.
Als sich die deutschen Grenadiere schließlich zurückziehen, zählt Sipjadoms Bataillon noch ganze sechzig Mann.
Trotz der erlittenen Schlappe und der hohen Verluste gibt der sowjetische Hauptmann den Kampf noch nicht auf. In drei Ausfällen, die dem Zweck dienen, wenigstens einen Teil des verlorengegangenen Geländes zurückzugewinnen, versucht Sipjadom das Blatt noch zu wenden. Aber die Deutschen sind auf der Hut. Im Feuerschlag mehrerer schwerer Granatwerfer bricht auch dieser Angriff der Rotarmisten zusammen.
Nach dieser Gewaltanstrengung ist es mit der Nervenkraft der Gardeschützen vorbei. In den mit Leichen angefüllten deutschen Gräben richten sich Sipjadoms Männer zur Verteidigung ein.
Ebenso glücklos wie das Bataillon Sipjadom (Rekonstruktion nach sowjetischen Dokumentationen) haben auch die beiden anderen Bataillone des 333. Schützenregiments gekämpft. Nach zwei Stunden muß der Regimentskommandeur, Oberst Babschenko, General Krasnow in einer kurzen Funkmeldung die Niederlage eingestehen.
Da Krasnows ungezügeltes Temperament und dessen sprichwörtliche Unduldsamkeit in der ganzen Division bekannt sind, rechnet der Oberst mit dem Schlimmsten. Um so erstaunter ist Babschenko, als er statt der Rüge einen Funkspruch folgenden Inhalts erhält:
- Kommandeur 45. Garde Schützendivision spricht Gardeschützenregiment 333 volle Anerkennung aus. Greifen Sie weiter an, Babschenko! -
Dieser Funkspruch verschlägt dem Obersten die Sprache. Was bedeutet das? Krasnow honoriert eine Niederlage mit Worten der Anerkennung! Das hatte es noch nie gegeben.
Noch mehr Verwirrung 20 Minuten später. Babschenkos Adjutant kommt mit allen Anzeichen tiefster Bestürzung an und berichtet dem Obersten, daß man eben einen Funkspruch der Armee-Division mitgehört habe, in dem davon die Rede war, daß mehrere Kommandeure und Kornpanieführer der 45. Division wegen „militärischer Unfähigkeit" ihrer Kommandos enthoben wurden.
Kommandoentzug und Standgericht auf der einen Seite, Lob und Anerkennung aber für das 333. Schützenregiment. Babschenko kann sich diese Widersprüchlichkeit nicht erklären. Er wird das dumpfe Gefühl nicht mehr los, als verberge sich hinter dem Lob des Generals die Drohung: Ich gebe dir noch einmal eine Chance. Nütze sie!
Rekonstruktion nach sowjetischen Dokumentationen
Babschenko, 38 Jahre alt, ist der Typ des jungen sowjetischen Karriereoffiziers, der dank persönlicher Tapferkeit und rücksichtsloser Einsatzbereitschaft rasch die militärische Erfolgsleiter hochgeklettert ist. Er glaubt sich in Gefahr, reagiert ganz typisch und funkt an General
Krasnow:
- Kommandeur 333. Gardeschützenregiment tief beschämt über ausgesprochenes Lob. Kommandeur und Regiment werden sich des in sie gesetzten Vertrauens würdig erweisen, gez. Babschenko. -
Dieser Funkspruch wurde vorn deutschen Abhördienst Wort für Wort mitgehört und aktenkundig gemacht.
Die genauen Zusammenhänge konnten freilich erst später durch Gefangenenaussagen und Tagebucheintragungen rekonstruiert werden. Die dabei gemachten Recherchen gaben einen Einblick in die völlig andersgeartete Mentalität des russischen Gegners. Das Verhalten dieses sowjetischen Regimentskommandeurs war symptomatisch für den Geist des sowjetischen Offizierskorps, der den Deutschen nicht selten unlösbare Rätsel aufgab.
Obgleich Oberst Babschenko sich darüber im klaren ist, daß sein Regiment bestenfalls noch aus ganzen drei einsatzfähigen Kompanien besteht, und diese moralisch schwer angeknackst sind, setzt er sich über alle Vernunft hinweg und befiehlt die Fortsetzung des Angriffs. Ehrgeizig, rücksichtslos, gewillt, das Unmögliche zu erzwingen.
Ganz überraschend und ohne vorherige Anmeldung kreuzt der Oberst mit seinem Adjutanten beim Bataillon des Hauptmanns Sipjadom auf. Dieser, durch einen Funkspruch gerade noch rechtzeitig verständigt, ahnt instinktiv, daß es zu einer harten Auseinandersetzung kommen
wird.
Sipjadom hatte eben die verstreuten Reste seines schwer angeschlagenen Bataillons einigermaßen geordnet, als der Oberst in Sipjadoms Gefechtsstand, einem ehemaligen deutschen Kampfstand, erscheint.
Babschenko ist verschwitzt, mit Blut besudelt, sein Gesichtsausdruck finster, beinahe böse. Ehe Sipjadom eine Meldung erstatten kann, knurrt ihn der Oberst an: „Ich befehle: Der Angriff wird fortgeführt!"
Hauptmann Sipjadom sieht ihn fassungslos an. Aber der Oberst scheint keine Erläuterung für nötig zu halten und wendet, sich ab.
Sipjadom geht aus dem Bunker und trommelt die Reste seines Bataillon zusammen. Das sind vierundsiebzig Gardeschützen, vier Unteroffiziere und zwei Unterleutnants. Alle anderen Offiziere des Bataillons sind gefallen oder schwer verwundet.
Als er in den Bunker zurückkommt, um Oberst Babschenko Vollzugsmeldung zu erstatten, hat dieser über Funk Verbindung zur Division aufgenommen. Der Oberst verlangt Feuerunterstützung der Artillerie. Die Division läßt den Oberst wissen, daß zur Zeit keine Artillerie zur Verfügung stehe, da diese anderweitig schwerpunktmäßig eingesetzt sei. Er könne aber vier schwere Granatwerfer bekommen. Der Oberst fragt an, wann die Granatwerfer zur Verfügung stünden. Die Antwort lautet:
Frühestens in einer halben Stunde. Daraufhin beendet Babschenko brüskiert das Gespräch und wendet sich an Hauptmann Sipjadom. „Das dauert mir zu lange. Wir greifen ohne die Granatwerfer an." Umsonst versucht der Hauptmann, den Oberst zu überreden, diese dreißig Minuten noch abzuwarten, denn man könne unmöglich ohne schwere Waffen angreifen. Babschenko beharrt jedoch auf seinem Entschluß.
Der Angriff endet, wie Hauptmann Sipjadom es vorausgeahnt hat, in einem Fiasko. Nach dreiviertelstündigem Kampf muß das Gefecht abgebrochen werden. Alle Versuche Sipjadoms,, seine Soldaten voranzutreiben, scheitern am erbitterten Widerstand der deutschen Grenadiere und an der totalen Erschöpfung der Gardeschützen. Mit Mühe und Not rettet der Hauptmann den Rest seines Bataillons, das sind noch einundzwanzig Mann. Bei einem Feuerüberfall deutscher Granatwerfer kommen noch weitere vier Soldaten ums Leben, und Hauptmann Sipjadom wird durch Granatsplitter im Gesicht verletzt.
Siebzig Minuten nach dem mißlungenen Angriff meldet sich Sipjadom bei Babschenko zurück, der, fast ungedeckt auf einem Granattrichterrand sitzend, mit dem Glas den Angriff verfolgt hat. Sipjadom grüßt und läßt die MPi in den hartgefrorenen Schnee gleiten.
Der Oberst streift ihn mit einem sonderbaren Blick, dann läßt er sich unvermittelt in den Granattrichter gleiten, winkt dem Hauptmann zu und bedeutet diesem, er möge ihm folgen. „Wie viele Männer haben Sie noch, Genosse Hauptmann?" „Einundzwanzig! Die beiden Unterleutnants sind tot." „Holen Sie alle her und was Sie sonst noch auf treiben können!" befiehlt Babschenko. „Ich wiederhole den Angriff und führe ihn selber."
„Sie haben keine Chance, Genösse Oberst", sagt Sipjadom sachlich und ganz ruhig. „So? Meinen Sie wirklich?"
„Jawohl! Das ist meine feste Überzeugung", sagt der Hauptmann. „Aber nicht die meine", erwidert Babschenko. „Und nun führen Sie meinen Befehl aus!"
Sipjadom gibt es auf. Achselzuckend entfernt er sich. Bei den Gardeschützen stößt er auf Gleichgültigkeit, Sie hören ihm gar nicht zu. Sie sind der Vernichtung entgangen, und das ist im Moment das Wichtigste für sie. Daß sie noch einmal dieselbe Hölle durchmachen sollen, begreifen sie im Augenblick gar nicht.
Inzwischen hat Hauptmann Sipjadom noch weitere sieben Soldaten gefunden, so daß dem Oberst nun achtundzwanzig Mann zur Verfügung stehen. Auch die Granatwerfer sind mittlerweile eingetroffen. Sie werden von Sipjadom eingewiesen.
Er findet den Kommandeur auf demselben Granattrichterrand. „Es ist alles für den Angriff bereit, Genosse Oberst", erstattet Sipjadom Meldung und wirft sich neben ihm zu Boden, weil er nicht die geringste Lust verspürt, den deutschen Scharfschützen als Zielscheibe zu dienen.
 
Babschenko, den Blick geradeaus gerichtet, nickt und schweigt. Er hat das Doppelglas an den Augen und späht zu den deutschen Linien hin.
„Danke!"
In diesem Augenblick kracht ein Gewehrschuß. Das Projektil saust so nahe an Babschenkos Kopf vorbei, daß dieser zusammenzuckt. Trotzdem bleibt er auf dem Kraterrand sitzen.
Da kracht es zum zweitenmal. Die Gewehrkugel schlägt nur wenige Zentimeter vor dem Obersten in den Schnee, und zieht eine Furche.
Sekunden später der dritte Schuß.
Die Kugel des deutschen Scharfschützen trifft den russischen Offizier mitten in den Kopf. Babschenko sinkt, ohne einen Laut von sich zu geben, vornüber.
Hauptmann Sipjadom, der sich schon beim ersten Schuß zu Boden geworfen hatte, greift zu und zieht ihn in den Granattrichter. Wenige Sekunden später stirbt der Oberst.
Er hat den Tod gesucht, geht es Sipjadom durch den Kopf. Dann befiehlt er zwei Rotarmisten, die Leiche des Kommandeurs in den Bunker zu schaffen.
Mittlerweile ist es der Funkstelle gelungen, eine Verbindung zur 45. Schützendivision herzustellen. Sipjadom kann somit den Tod des Regimentskommandeurs an die Division durchgeben. Die Funksprechverbindung ist zwar nicht ganz einwandfrei, aber Hauptmann Sipjadom kann sich dennoch einigermaßen mit der Gegenstelle verständigen. Am anderen Ende ist der Politkommissar Proskatow. Er hört sich die Meldung an, dann sagt er:
„Auf Befehl der Division sind vorerst alle Angriffe im Raum Gorodok einzustellen. Das Regiment übernehmen Sie inzwischen. Um 17 Uhr finden Sie sich zur Lagebesprechung ein. Ende."  
Bei kritischer Betrachtung der allgemeinen Lage sah es fast so aus, als wäre die sowjetische Offensive im „Flaschenhals" ein Schlag ins Wasser gewesen, denn nirgends haben die Russen ihre Angriffsziele erreichen können - weder bei Gorodok noch bei Dubrowka und der Schlüsselburger Front selbst.
Doch trotz der ungeheuren Blutopfer, die von den sowjetischen Sturmdivisionen gebracht wurden, behielt der Oberkommandierende der sowjetischen Heeresgruppe Wolchow einen klaren Kopf.
Noch war nicht aller Tage Abend, und noch stand die gewaltige Schlacht nicht im Zenit. So fehlten beispielsweise noch die Meldungen über die Operationen der 2. sowjetischen Stoßarmee.
Diese war mit sieben Schützendivisionen und einer Panzerbrigade von Osten her gegen den deutschen „Flaschenhals" vor Schlüsselburg angetreten. Auf einer Breite von 13 Kilometern. Verteidigt wurde dieser Frontabschnitt von einer einzigen deutschen Infanteriedivision, der 227. ID. Diese hatte lediglich zusätzlich einige schwache Alarmeinheiten unterstellt bekommen.
 

   

 
Der russische Oberkommandierende hatte somit keinen Grund, die Nerven zu verlieren, zumal seit zwei Stunden auch im Raum südlich von Schlüsselburg die Offensive angelaufen war. Hier griff die 86. sowjetische Schützendivision an, eine Elite-Einheit, die aller Voraussicht nach den Übergang über die Newa schaffen würde.
Beängstigend für den Oberbefehlshaber der Wolchow-Front war lediglich die Tatsache, daß die Deutschen sich mit einer unglaublichen Zähigkeit der Angriffe erwehrten, obwohl sie durch das ständige stundenlange Trommelfeuer hätten niedergekämpft sein müssen.
„Besorgniserregende Entwicklung", hieß es im Hauptquartier der 18. deutschen Armee. Bei Generaloberst Lindemann herrschte höchste Alarmstufe. Die Telefonapparate rasselten ununterbrochen, die Funker klebten auf ihren Stühlen, jagten Spruch für Spruch in den Äther, Melder kamen und gingen, Kuriere hetzten zu den Stäben.
„Nie zuvor hatten wir so stark das verdammt unangenehme Gefühl, auf einem Pulverfaß zu sitzen, an das schon die Lunte gelegt worden ist", berichtet Oberleutnant Faßnacht, einer von Lindemanns Ordonnanzoffizieren, über jene kritischen Stunden.
Der Generaloberst selbst ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Lindemann betrachtete die Lage, in der sich seine Armee befand, ohne Illusionen, aber er wurde von der allgemeinen Hektik nicht angesteckt.
Er wartete ab. Ruhig nahm er die eintreffenden Hiobsbotschaften entgegen, während sein Stabschef die Meldungen auf die Lagekarte übertrug. Den Oberbefehlshaber interessierten zur Stunde nur die Fragen: Wo bilden sich feindliche Angriff s Schwerpunkte? Wo wird der Gegner versuchen, die deutsche HKL zu durchstoßen, und wo führt er seine Ablenkungsmanöver durch? Erst, wenn er die Pläne des Gegners durchschaute, konnte er als der Armeeführer seine Entschlüsse fassen.
Eng verbunden mit der Frage nach der feindlichen Schwerpunktbildung war die des Einsatzes der Armee-Eingreifreserve. Und da sah es bei der 18. Armee böse aus. Eine einzige Infanteriedivision stand Generaloberst Lindemann zur Verfügung, die 96. ID. Es war eine Rußland erfahrene, kampferprobte Division. Sie war auch sofort greifbar, allerdings nur mit fünf Bataillonen. Der Rest stand längst als „Feuerwehr" an anderen Brennpunkten der bedrohten Nordfront. Gewiß, Lindemann konnte außerdem noch auf eine Flakabteilung vom Flakregiment 36 (8,8-cm-Geschütze), auf eine Artillerieabteilung mit 15-cm-Haubitzen und auf vier „Tiger" nebst acht Panzern IV zurückgreifen. Diese Streitmacht mochte zwar auf den ersten Blick ganz beachtlich sein, die Perspektive verschob sich jedoch sofort, wenn man bedachte, daß mit der Reserve eine maximale Frontlänge von 36 km abgesichert werden sollte.
Mit einer Hilfeleistung der Nachbararmeen konnte ebenfalls nicht gerechnet werden, denn dort sah es nicht anders aus.
 
Bei Rschew, Welikije Luki und Demjansk kämpften derzeit ganze Armeen um Sein oder Nichtsein. Die Fronten waren überall überdehnt, und die Sowjets griffen mit überlegenen Infanterie- und Panzerkräften an. Sie witterten Morgenluft und warteten nur darauf, dem deutschen Ostheer die kriegsentscheidende Niederlage beibringen zu können.
In der kritischsten Lage aber befand sich zweifellos die 18. Armee, denn ihr drohte, wenn der Russe seine Operationsziele erreichte, die  totale Einkesselung.
Kein Wunder also, wenn bei der 18. Armee das Gespenst von Stalingrad umging. Alle Orte, alle Stellungen und jedes Waldstück waren zum „festen Platz" erklärt worden, und das war erfahrungsgemäß ein böses Omen. Diese rigorose Maßnahme drückte nur die Ohnmacht der Führung aus.
Der verzweifelte Kampf der 6. Armee in Stalingrad saß Offizieren und Landsern sozusagen in den Knochen, obwohl niemand davon redete. Aber in demselben Maße, wie die Furcht vor einer Einkesselung bei den Truppen stieg, wuchs auch der Widerstandswille, jene unfaßbare Kraft des Glaubens an die eigene Stärke, die schon so oft den Ausschlag gegeben hatte.
Es ist am Mittag des 12. Januar 1943, als die Schlacht im „Flaschenhals" von Schlüsselburg ihren absoluten Höhepunkt erreicht.
Die ersten sowjetischen Einbrüche werden gemeldet. Zunächst können sie abgeriegelt werden. Aber die ungeheuren Massen der russischen Infanterie stürmen unentwegt weiter - und werden zurückgeschlagen. Tausende von Rotarmisten liegen tot auf dem Eis der Newa, vor und in der deutschen HKL.
Nervosität breitet sich im Hauptquartier des Oberkommandierenden der „Wolchow-Front" aus. Man kann es einfach nicht fassen, daß die Gardeschützenregimenter nirgendwo den entscheidenden Durchbruch
erzwingen können.
Die Meldungen, die im Hauptquartier des sowjetischen Oberkommandierenden eintreffen, sind niederschmetternd. „86. russische Schützendivision: Angriffsziel nicht erreicht", heißt es in einem Funkspruch.
Gerade in diese Division hat die russische Führung große Hoffnungen gesetzt. Nun aber zeigt es sich, daß ausgerechnet der Elitekampfverband glücklos gekämpft hat. Er schaffte an keiner Stelle den Übergang über die Newa. Es waren die deutschen Grenadiere des I. Bataillons GR 401 (170. ID) und Teile der 227. ID, die hier den in Massen angreifenden Russen eine fürchterliche Niederlage beibrachten.
Bedienungen deutscher Maschinengewehre, leichter Feldgeschütze und Granatwerfer verschossen ihre letzte Munition, kämpften zumeist sogar in offener Feuerstellung und zwangen den Gegner nieder.
General Duchanow, der Befehlshaber der 67. russischen Armee, sah sich deshalb gezwungen, auch in seinem Abschnitt die Angriffe vorübergehend einzustellen.
 

 
Nicht anders ergeht es der mächtigen 2. sowjetischen Stoßarmee, welche die Ostseite des „Flaschenhalses" berennt. Nach fünfstündigem Kampf hat sich auch ihr Angriff festgefahren.
Bei der deutschen 18. Armee atmet man auf. Die Front der deutschen Grenadiere hat im Angriff s Schwerpunkt bei Gorodok und Marino standgehalten, die sowjetische Angriffswalze vermochte die Entscheidung nicht im ersten Ansturm herbeizuführen. Das ist für die 18. Armee ein glänzender Abwehrerfolg, denn die Erfahrung hat gezeigt, was dem Russen nicht auf Anhieb gelingt, erreicht er entweder gar nicht mehr oder nur unter Anspannung seiner ganzen Kraft. Das heißt, die Sowjets sind gezwungen, ihre Kräfte neu zu formieren, umzugruppieren, schwere Waffen heranzuschaffen. Dazu benötigen sie Zeit, die den deutschen Verteidigern zugute kommt.
Gerade als die Schlacht für eine Weile den Atem anhält, Generaloberst Lindemann sich berechtigte Hoffnungen macht, das Ärgste überstanden scheint, da passiert das verhängnisvolle Unglück.
12.45 Uhr. Marino, an der Nahtstelle zwischen der Aufklärungsabteilung 240 und dem II. Bataillon Grenadierregiment 401.
Das Gelände in diesem Kampfabschnitt gleicht einem Sturzacker, der von Granaten aufgewühlt und umgepflügt worden ist.
Das Steilufer der Newa ist durch das Trommelfeuer der russischen Artillerie und der schweren Granatwerfer gezackt wie ein Gebirgskamm. Unvorstellbar, daß hier noch ein Mensch leben und kämpfen kann. Und doch sind es die Männer der Aufklärungsabteilung 240 (AA 240), die trotz wiedereinsetzenden Artilleriefeuers verbissen ihre Stellungen halten und die starken russischen Stoßtrupps, die sich tollkühn an das Newa-Ufer heranschieben, unter Beschuß nehmen.
Hauptmann Irle, der Kommandeur der AA 240, leitet den Abwehrkampf in der vordersten Linie. Im Feuer der russischen Artillerie springt er von Kompanie zu Kompanie, macht seinen Männern Mut, sieht überall nach dem Rechten. Er weiß, wie wichtig es ist, ein Beispiel zu geben. Die überbeanspruchten Männer dürfen nicht das Gefühl haben, auf verlassenem Posten zu stehen.
„Nicht schlappmachen, Jungs. Denen geht bald die Luft aus!" tröstet er.
Dankbare Blicke. Betont forsche Redensarten, mit denen die Verzweiflung überspielt wird. Weiter! An drei Granattrichtern vorbei, dann in einen Graben hinein, wo eine vier Mann starke Gruppe mit einem MG liegt. Zehn Meter davon entfernt die Fragmente eines Bunkers.
Als der Gruppenführer, ein Unteroffizier, den Abteilungskommandeur erkennt, springt er vom MG weg und will Meldung erstatten. Da dröhnen plötzlich Abschüsse auf. Einschläge von „Stalinorgeln", Artilleriefeuer!
Die vier Männer der Gruppe werfen sich in den Schnee.
Hauptmann Irle brüllt, winkt ihnen zu: „Los, rüber zum Bunker!"
Der Bunker liegt im toten Schußwinkel. Aber sie wollen nicht, schreien ihm etwas zu, was er in dem schrecklichen Getöse nicht verstehen kann. Durch eine Wand aus Schnee und hochgewirbeltem Dreck läuft der Hauptmann allein zurück. Ganz nahe vier donnernde Einschläge. Mit einem Hechtsprung erreicht Irle die Deckung. Und dann verschlägt es ihm den Atem.
Er befindet sich in einem mit Leichen gefüllten Kampf stand. Auf einem Lager aus Steppengras liegen etwa elf Mann. Manche sind schrecklich zugerichtet. Einem fehlen beide Beine, einem anderen hat es den rechten Arm abgerissen. Die Toten liegen in gefrorenen Blutlachen, und die Körper sind in der Kälte erstarrt.
Jetzt ist Irle auch klar, warum die vier Männer sich geweigert hatten, im Bunker Deckung zu suchen. Der schaurige Anblick der Toten ließ sie ihr eigenes Schicksal zu deutlich voraussehen.
Nach Beendigung des Feuerüberfalls kriecht der Hauptmann wieder ins Freie. Wie aus Gräbern auferstanden, steigen stumm, in ihren dreckiggrauen Tarnanzügen, die vier Soldaten und ihr Unteroffizier aus den Granattrichtern und begeben sich vor zum MG-Stand.
Auf dem Weg zur 2. Kompanie begegnet der Hauptmann einer Schlittenkolonne, die Munition nach vorn bringen wollte. Sie geriet unvermittelt in das Feuer mehrerer „Stalinorgeln". Von den sieben Männern haben zwei den Feuerschlag überlebt, die anderen, dunkle Bündel im Schnee, sind tot. Die Trümmer des Schlittens liegen verstreut im Schnee.
Bevor der Hauptmann mit den beiden Landsern sprechen kann, hört er plötzlich vorn im Abschnitt der 2. Kompanie heftiges MG-Feuer, Gewehrgeknatter, Abschüsse von Pak. Irle rennt schon los und trifft auf einen Kompaniemelder, der ihn auf dem kürzesten Weg zum Kompaniegefechtsstand bringt.
Nachdem der Kompanieführer bereits in der ersten Stunde des Angriffs gefallen ist, wird die Kompanie jetzt von einem Feldwebel geführt, der von einem einigermaßen heilgebliebenen MG-Stand ausser liegt ganz vorn am Steilufer - den Abwehrkampf der „Zwoten" leitet.
Auf dem Eis der Newa, etwa 150 Meter von den deutschen Stellungen entfernt, kann der Hauptmann an die vierzig Russen erkennen. Sie haben zwei Maschinengewehre in Stellung gebracht, mit denen sie den deutschen MG-Stand unter Beschuß nehmen. Dahinter, mitten auf der freien Fläche, ist eine 7,62-cm-Pak der Sowjets aufgefahren und eröffnet nun ebenfalls das Feuer.
„Ein starker russischer Stoßtrupp", orientiert ihn der Feldwebel. „Die haben ja Mumm", knurrt Hauptmann Irle.
„Sie kamen aufrecht gehend übers Eis", sagt der Feldwebel und fügt erklärend hinzu: „Wir haben sie bis auf zweihundert Meter herankommen lassen und dann mit diesem MG und dem rechten Flanken-MG unter Feuer genommen. Jetzt liegen sie genau zwischen unseren beiden Gewehren und können nicht mehr weiter." „Die Pak gefällt mir aber gar nicht", sagt der Hauptmann. „Mir auch nicht", bestätigt der Feldwebel. „Aber an die kommen wir nicht ran. Ist zu weit entfernt. Außerdem haben wir keine Stahlmantelgeschosse mehr, Herr Hauptmann."
 
„Aber die Stellung muß gehalten werden", murmelt Irle.
Minuten später bricht wieder die Hölle los. Die Russen belegen das östliche Newa-Ufer mit schwerer Artillerie und Granatwerfern, knallen mit Pak und Panzern, die sich rumpelnd und kettenrasselnd über das holprige Eis heranschieben, auf die erkannten Stellungen der AA 240 zu.
Zwanzig Minuten dauert der massierte Feuerschlag, wobei Irles Männer den Kopf nicht aus der Deckung kriegen. Und dann wimmelt der zugefrorene Fluß erneut von angreifenden Rotarmisten. Es ist die sechste Welle, die mit „Urrä" anrennt. In der zweiten Linie schleppen sie Sturmleitern mit.
„An die Gewehre! Feuer frei!"
Auf der ganzen Linie bis hinüber zum II. Bataillon Grenadierregiment 401 tackern nun die deutschen Maschinengewehre, krachen die Karabiner. Der Tod fährt in die russische Angriffsphalanx, mäht Reihe um Reihe nieder. Berge von Leichen türmen sich auf dem Eis.
Eine ganze Stunde lang stürmen die Rotarmisten, verteidigen Hauptmann Irles Männer ihre exponierte Ostuferstellung. Plötzlich fällt dem Hauptmann auf: Beim II./GR 401 wird der Gefechtslärm russischerseits immer stärker, während das Abwehrfeuer der 401er erschreckend schwächer wird.
„Menschenskind, ich glaube, dort drüben bahnt sich eine Schweinerei an", mutmaßt der Kommandeur der AA 240 und schaut den Feldwebel an.
Dieser nickt und meint: „Es gibt hier eine Stelle, Herr Hauptmann, wo man den linken Flügel des II. Bataillons sehr gut einsehen kann."
„Los, zeigen Sie mir die Stelle!" befiehlt Hauptmann Irle.
Beide rennen mit eingezogenen Köpfen und pfeifenden Lungen zirka 200 Meter nordostwärts, wo ein vorspringender Knick im Steilufer gute Sicht zum II./GR 401 bietet,
Hauptmann Irle nimmt das Glas an die Augen und späht hinüber.
Was er sieht, jagt ihm einen mächtigen Schrecken ein.
Am linken Flügel des II./GR 401, also direkt an der Nahtstelle zur AA 240, haben die Russen in Kompaniestärke das Steilufer erreicht, Leitern angelegt. Die ersten zwanzig, dreißig Mann, deutlich im Doppelglas des Hauptmanns zu erkennen, klettern daran hoch. Sie treffen offensichtlich auf keinen Widerstand. Die 401er wehren sich weder mit Handgranaten noch mit Maschinenpistolen, und das kann nur bedeuten, daß die Uferverteidigung völlig zusammengebrochen ist.
Der erfahrene Kommandeur der AA 240 ist sich sofort im klaren darüber, daß höchste Gefahr im Verzug ist. Er selbst kann den 401ern nicht zu Hilfe kommen, weil die eigenen Kräfte kaum ausreichen, die unter starkem Druck stehenden Verteidigungsstellungen der AA zu halten. Aber man könnte durch flankierendes Feuer dem Nachbarn Entlastung bringen. Dies ist allerdings nur vom Abschnitt der 1. Kompanie aus möglich. Noch wichtiger ist es jedoch, Verbindung zum II./GR 401 aufzunehmen. Es besteht dorthin eine Querschaltung. Die Frage ist nur, ob diese noch intakt ist.
 

   

 
Wie vom Teufel gejagt, rennt der Hauptmann zu seinem Gefechtsstand zurück und kommt dort völlig ausgepumpt an.
Der Hauptmann gönnt sich nur einige Sekunden Ruhe, dann fragt er den Adjutanten, ob noch Telefonverbindung zu den 401ern bestünde.
„Vor einer halben Stunde klappte es noch."
„Dann stellen Sie sofort eine Verbindung her", befiehlt Irle und zündet sich zur Beruhigung eine Zigarette an.
Der Abteilungsnachrichtenzug ist in zwei Bunkern unmittelbar neben dem Gefechtsstand untergebracht.
„Sofort eine Verbindung zum II./GR 401", fordert der Adjutant, als er den Nachrichtenbunker betritt.
„Zu Befehl, Verbindung zu II. Bataillon GR 401", wiederholt der Fernsprecher, ein Obergefreiter, mechanisch und stöpselt durch, beginnt die
Kurbel zu drehen.
Es dauerte eine ganze Weile, aber dann brüllt der Obergefreite dem Leutnant zu: „Verbindung ist da ..." Der Adjutant will den Hörer ergreifen, aber Hauptmann Irle steht schon neben dem Telefonisten und reißt ihm den Hörer aus der Hand.
„Hier Aufklärungsabteilung 240, Hauptmann Irle. - Hallo - wer spricht? Ich kann Sie nicht verstehen..."
Irle stößt einen Fluch aus. „Verdammt noch mal, da ist kaum was zu hören ... Hallo, hallo! Ja, endlich. Können Sie mich verstehen?" Er hat wieder Verbindung. „Holen Sie Ihren Kommandeur an den Apparat!"
Doch da wird die Telefonverbindung zum II. Bataillon erneut unterbrochen.
So geht das einige Minuten lang hin und her. Manchmal kann der Hauptmann Wortfetzen aufnehmen, merkwürdige Geräusche, dann wieder herrscht Totenstille in der Leitung.
Aber Irle gibt nicht auf. Plötzlich dringt aus dem Hörer die klare Stimme eines Mannes: „Hier Gefechtsstand II. Bataillon GR 401..."
„Mit wem spreche ich?" unterbricht Hauptmann Irle den anderen.
„Hier spricht Unteroffizier Uhlmann", tönt es aus dem Hörer.
„Sprechen Sie!" fordert der Hauptmann den Unteroffizier auf. „Was ist los bei euch? Geben Sie mir Ihren Kommandeur, Uhlmann. Es ist dringend..."
Unteroffizier Uhlmann antwortet zwar, aber Irle kann die Worte nicht verstehen, weil sie von Gefechtsgeräuschen übertönt werden. Die Stimme bricht ab, das Krachen von explodierenden Handgranaten und Maschinenpistolenfeuer ist zu hören.
„Jetzt haben wir die Sauerei", wendet sich der Hauptmann an seinen Adjutanten. „Hören Sie selbst: Gefechtslärm! Die Iwans sind bei den 401ern durchgebrochen."
Irles Adjutant nimmt den Hörer und preßt ihn ans Ohr. Er wird bleich.
„Die Russen haben es also doch geschafft", sagt Irle. „Bleiben Sie am Apparat. Viel Hoffnung habe ich zwar nicht, daß sich dieser Uhlmann noch einmal meldet, aber wir müssen versuchen, mit ihm in Verbindung zu bleiben."
„Jawohl, Herr Hauptmann."
Der Telefonhörer gibt auch weiterhin nichts anderes preis als sich stetig steigernden Gefechtslärm, der dann und wann von rauen Rufen und Kommandos unterbrochen wird.
Unteroffizier Uhlmann aber meldet sich nicht - vorerst jedenfalls nicht.
Während an der Westfront der Newa die Kämpfe mit unverminderter Heftigkeit anhalten, ist auch die 2. sowjetische Stoßarmee zum Angriff angetreten. Sieben russische Divisionen berennen die deutschen Stellungen zwischen Lipki am Ladogasee und Gaitolowo nördlich der Kirow-Bahn.
Im Brennpunkt dieser Angriffe steht das Grenadierregiment 287 (GR 287), das zur 207. Sicherungsdivision gehört.
Das am Eckpfeiler dieser Verteidigungsfront fechtende II. Bataillon Grenadierregiment 287 kann seine dünn besetzten Stellungen trotz wütender und massierter Angriffe der Sowjets erfolgreich verteidigen. Doch südlich, wo das I. Bataillon des ostpommerschen Grenadierregiments 374 kämpft, gelingt den Sowjets plötzlich ein tiefer und gefährlicher Einbruch.
Breit gefächert stoßen sowjetische Infanterie- und Panzerverbände durch die Einbruchslücke. Die Russen stürmen und trommeln mit „Ratsch-Bumm" und schweren Granatwerfern die abgeschnittenen Kompanien und Stützpunkte zusammen. Wo es nicht gelingt, die in Rundumverteidigung kämpfenden Stützpunkte im ersten Ansturm niederzuwerfen, werden diese von den Gardeschützen (meist asiatischen Einheiten) eingekreist oder auch einfach umgangen, liegengelassen, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu liquidieren.
Einzelne Funksprüche, die nach hinten dringen, berichten von furchtbaren Kämpfen.
Im Verlauf des Vormittags kommt es schließlich zu allem Unglück auch beim III. Bataillon GR 374 zu einer neuen russischen Schwerpunktbildung. Hier stürmen die Rotarmisten der 327. Schützendivision. Ihr Kommandeur heißt Oberst Poljakow.
 
Er ist einer der profiliertesten Regimentskommandeure. Ein kühler Rechner, ein mutiger Draufgänger, aber auch ein vorzüglicher Taktiker. Wochenlang vor der Offensive hat Poljakow die Stellungen des III. Bataillons GR 374 sowie die Verteidigungsanlagen von Oberst Wenglers Grenadierregiment 366 erkunden lassen. In generalstabsmäßiger Kleinarbeit haben seine Leute ein wirklichkeitsgetreues Modell dieser Stellungen im Sandkasten nachgebaut, und zwar in allen Details - mit Palisadenzäunen, Laufgräben, zahlreichen MG-Bunkern und Gefechtsständen.
An der Naht zwischen beiden deutschen Regimentern setzt Oberst Poljakow nun den Hebel an. Aus einem kleinen Wäldchen, das sich hervorragend für eine gedeckte Annäherung eignet, stürmen seine Schützen. Ihre Kampfparole heißt: „Rache für den Spätsommer des Jahres 1942!"
Damals hatten sich die Sturmregimenter der 54. sowjetischen Armee eine fürchterliche Niederlage geholt. Diese Schlappe, von den Sowjets nie verschmerzt und vergessen, soll jetzt ausgewetzt werden.
Im Durchbruchsraum der 207. Sicherungsdivision herrschen zur Zeit chaotische Zustände. Nach vorsichtigen Schätzungen der Divisionsführung sind etwa vier starke Stützpunkte vom Feind überrollt und eingeschlossen. Ihre Kampfkraft kann aber nicht entbehrt werden. Andererseits muß angenommen werden, daß sich die Stützpunkte nur für kurze Zeit halten können, denn sie verfügen nur über wenig Nahrungsmittel, außerdem reicht ihre Munition keinesfalls länger als ein oder zwei Tage.
Die Division erteilt angesichts dieser Lage den Stützpunktbesatzungen den Befehl, sich nach Westen durchzukämpfen, um Anschluß an die eigenen Linien zu bekommen.
Eine besonders dramatische Episode verdient festgehalten zu werden. Gemeint ist der waghalsige und kühne Ausbruch des Stützpunkts Tscherniskaja. Tscherniskaja ist ein winziges Dorf, unmittelbar hinter der deutschen HKL.
Entgegen den sonstigen Gepflogenheiten wurde der Ort nicht von den Zivilisten geräumt, da diese zu den Deutschen in einem besonders freundschaftlichen Verhältnis stehen und wochen- und monatelang unter schwierigsten Bedingungen mitgeholfen haben, die deutschen Winterstellungen auszubauen.
Tscherniskaja geriet sofort bei Beginn der sowjetischen Offensive in den Strudel der Vernichtungsschlacht. Den Stützpunktverteidigern, angeführt von einem jungen Hauptmann, gelang es, als „Wellenbrecher" alle noch so wütend geführten Angriffe der Sowjets abzuwehren. Nach drei vergeblichen Sturmangriffen befahl der russische Regimentskommandeur, das Dorf liegenzulassen und einzukesseln.
Von diesem Zeitpunkt an begann das große Leiden. Die Sowjets brachten Artillerie heran, die pausenlos in das Dorf hineinschoß, bis alle Häuser dem Erdboden gleichgemacht waren. Der Stützpunkt, darüber ist sich der junge Hauptmann nun im klaren, kann sich nicht halten. Jeder Mann besitzt noch fünfzehn Schuß Gewehrmunition, pro MG stehen 2000 Schuß zur Verfügung. Das Schlimmste aber ist: Im Stützpunkt liegen über dreißig Verwundete in Schneelöchern, in eiskalten Kellern, die notdürftig mit Stroh ausgeschüttet sind.
Da trifft der Funkspruch der Division ein: „Setzen Sie sich bei Einbruch der Dunkelheit in Richtung Südwesten ab. Wir bereiten alles vor."
Das ist gut und schön, aber der Hauptmann braucht einen Arzt. Das Stöhnen, Wimmern und Schreien der unversorgten Verwundeten ist nicht mehr zu ertragen. Ein einziger Sanitätsdienstgrad bemüht sich um
die Kameraden, aber er kann ihnen keine Linderung verschaffen, weil
weder Medikamente noch das allernötigste Verbandszeug da sind.
So funkt der Hauptmann an die Division: „Wir brechen aus, aber schickt uns einen Arzt.
Die Not der Verwundeten ist schrecklich."
Der Stab der Sicherungsdivision nimmt Verbindung zur Armee auf, und diese schickt einen Stabsarzt.
Dr. Ruderfels läßt sich vom la der Division die Lage - soweit sie bekannt ist - erklären. Der erfahrene Truppenarzt hat keine Illusionen, „Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, dem Stützpunkt und den Verwundeten zu helfen: Ich muß mit einem Friesler ,Storch' eingeflogen werden."
„Den können Sie notfalls haben, Doktor", antwortet der la und heftet den Blick forschend auf sein Gegenüber. „Aber was dann? Die Zeit drängt! Sie können unmöglich allein über dreißig Verwundete versorgen."
„Das habe ich auch nicht vor", sagt Stabsarzt Dr. Ruderfels. „Die Verwundeten müssen raus ins Lazarett, denn nur dort kann man ihnen helfen."
„Und wie sollen diese armen Kerle den Durchbruch überstehen, Doktor?"
„Besorgen Sie mir eine Maschine, das andere wird sich finden", erklärt
der Stabsarzt.
Die Nahaufklärerstaffel stellt einen „Storch" unter der Bedingung zur Verfügung, daß die Maschine spätestens bis zehn Uhr abends wieder
zurück ist. Die „Aktion  Schwalbenflug" (Deckname) wird nach sorgfältiger  Vorbereitung gestartet.
Der Doktor steckt sich die Taschen voll Pervitin und wird nach Einbruch der Dämmerung in den eingeschlossenen Stützpunkt geflogen. Die Russen merken nichts. Sie glauben, die Maschine sei einer ihrer „Leukoplastbomber".
Inzwischen sind im Stützpunkt alle Vorkehrungen für den Ausbruch getroffen worden. Die Schlittenkolonne steht bereit. Spähtrupps haben vorsichtig die russische Sicherungskette abgetastet und tatsächlich eine Lücke darin gefunden.
Stabsarzt Dr. Ruderfels verteilt seine Pervitintabletten (ein starkes Aufputschmittel, welches das natürliche Schlafbedürfnis für längere Zeit aufhebt, bei Mißbrauch jedoch schwere Schädigungen hervorruft) an die Landser und Verwundeten.
Da erscheint eine Stunde vor Abmarsch überraschend der Dorfälteste beim Stützpunktkommandanten. Er hat Wind davon bekommen, daß die Deutschen das Dorf verlassen und zu den eigenen Linien durchbrechen wollen. Händeringend bittet er den Hauptmann, doch alle Bewohner mitzunehmen. Der Hauptmann hält dem Mann vor Augen, in welche Gefahr sich die Männer, Frauen und Kinder begeben, wenn sie den Durchbruch mitmachen würden. Er verweist auf die Eiseskälte, den Schneesturm und auf die Möglichkeit, in einen Kugelregen der Russen zu geraten. Umsonst. „Lieber im Schnee umkommen und sterben als denen in die Hände fallen", sagt der Dorfälteste.
Der Mann hat sicherlich recht. Auf Kollaboration mit dem Feind* steht bei den Sowjets der Tod oder zumindest Straflager. Was soll der junge Hauptmann tun? Nimmt er die Frauen und Kinder mit, geht er das Risiko ein, daß diese eine Gefahr und eine Behinderung für die Truppe werden. Andererseits kann er Menschen, die monatelang treu und zuverlässig die Kümmernisse eines Stellungskrieges miterduldet haben, nicht vor den Kopf stoßen. Er berät sich mit dem Doktor, der aber meint: „Das müssen Sie allein entscheiden, Herr Hauptmann. Sie tragen die Verantwortung."
Der Hauptmann bringt es nicht übers Herz, die Dorfbewohner ihrem Schicksal zu überlassen, und setzt den Aufbruch für neun Uhr an.
Inzwischen ausgesandte Spähtrupps haben erkundet, daß die russischen Sicherungsposten sich zum großen Teil in die umliegenden kleinen Wälder zurückgezogen haben, das Dorf aber nach wie vor unter Beobachtung des Gegners stehe.
So geräuschlos wie möglich verläßt die aus siebenundzwanzig Schlittengespannen bestehende Kolonne die Ortschaft. Verwundete, ältere Frauen mit Kleinkindern und Säuglingen dürfen fahren, gezogen von männlichen Dorfbewohnern und Soldaten.
Entlang der Kolonne stapfen in Schützenreihe die Grenadiere, die Waffen schußbereit. Schneeschuhstreifen fahren voraus, um die Lage zu erkunden.
Es gelingt tatsächlich, durch die vorher genau erkundete russische Postenkette zu schlüpfen, wobei freilich die Witterungsverhältnisse zum Bundesgenossen der Flüchtenden werden. Heulend fegt ein Schneesturm über das Land, und es herrscht rabenschwarze Dunkelheit.
Über drei Stunden ist der Elendszug schon unterwegs, ohne mit den sowjetischen Truppen in Berührung zu kommen. Der Hauptmann und der Stabsarzt laufen unermüdlich an der Kolonne entlang und muntern den einen oder anderen auf, dessen Kräfte zu versagen drohen. Im großen und ganzen haben beide nicht viel Mühe, denn das Pervitin sorgt dafür, daß keine vorzeitigen Ermüdungserscheinungen auftreten.
Gegen drei Uhr morgens schrecken Landser und Zivilisten zusammen: Motorengebrumm ist zu hören.
„Halt! Nicht bewegen. Alles volle Deckung!"
Scheinwerfer reißen die Dunkelheit auf. Es ist eine Gruppe von T-34-Panzern, die der Flüchtlingskolonne entgegenrollt. Aus, vorbei! denken Landser und Zivilisten entsetzt. Das drohende mahlende Geräusch der Panzerketten kommt näher und näher. Bald werden die Scheinwerfer des vorausfahrenden Panzers die im Schnee liegenden Gestalten erfassen.
„Panzernahkampftrupps nach vorn", befiehlt der Hauptmann. Sieben „Ofenrohre" hat er zur Verfügung, und er ist fest entschlossen, sie einzusetzen.
Da! Keine 100 Meter vor der Spitze der Kolonne drehen die russischen Panzer mit einemmal nach Norden ab, verschwinden in der Dunkelheit.
Die Zivilisten bekreuzigen sich, die Soldaten können es zunächst noch nicht fassen.
Aber dann kommt das Morgengrauen. Weit kann die Kolonne von den eigenen Linien nicht mehr entfernt sein, denn deutlich sind Maschinengewehr- und Granatwerferfeuer zu hören. Auch Leuchtzeichen ziehen schemenhaft ihre Bahn durch das Zwielicht.
Jetzt wird die Situation gefährlich, aber Eile tut not. Der Doktor und der Hauptmann drängen: „Nehmt eure letzten Kräfte zusammen! Gleich haben wir's geschafft."
Da geschieht das, was der Hauptmann insgeheim längst erwartet hatte. Von hinten kommt der Ruf: „Wir werden verfolgt! Russische Schneeschuhstreifen hinter uns!"
Ein ganzes Bataillon jagt hinter der Kolonne her. In ihrer weißen Tarnkleidung huschen die sibirischen Schützen über den Schnee. Es wäre ein leichtes für sie, die Landser und Zivilisten mit MG-Feuer niederzumachen, aber offenbar liegt den Sowjets daran, die Flüchtenden lebend in die Hand zu bekommen.
Immer kürzer wird der Abstand zwischen den Verfolgern, durchtrainierten, kräftigen Männern, und dem Elendszug der Deutschen. Siebenhundert Meter, sechshundert Meter. Hauptmann und Stabsarzt kommen bereits überein, mit einer zwanzig Mann starken Gruppe den Kampf gegen das heranrückende russische Skibataillon aufzunehmen, um den eigenen Kameraden durch hinhaltenden, wenn auch aussichtslosen Widerstand die weitere Flucht zu ermöglichen.
In diesem kritischen Augenblick erkennen vorgeschobene Gefechtsposten der 227. Infanteriedivison Flüchtende und Verfolger. In Sekundenschnelle wird die eigene Artillerie alarmiert, die vorgeschobenen Artilleriebeobachter geben ihre inzwischen ermittelten Schußwerte durch. Und dann heulen die Granaten von vier Haubitzenbatterien den Sowjets entgegen. Diese geraten in Verwirrung, jagen auseinander. Aber das deutsche Artilleriefeuer läßt sie nicht mehr aus dem Griff. Granate um Granate heult zwischen die Russen, die sich schließlich zurückziehen müssen. Völlig erschöpft erreichen die Landser des Stützpunkts Tscherniskaja schließlich die eigene HKL. Sie haben, zusammen mit den russischen Zivilisten, den Durchbruch geschafft, aber unter welchen Opfern!
Obgleich die Verwundeten - viele sind unterwegs unbemerkt gestorben - und die Erfrierungsfälle sofort in das nächste Lazarett gebracht werden, kommt für manchen jede ärztliche Hilfe zu spät.
Von siebzig Deutschen und dreiundvierzig russischen Zivilisten hat nur zirka ein Viertel die Flucht durch Eis, Sturm und Schnee überstanden. Ein bitteres Schicksal. Dennoch sind die Überlebenden glücklich, der Gefahr, in russische Gefangenschaft zu geraten, entgangen zu sein.
Dutzende deutscher Stützpunktbesatzungen, die von der eigenen Front abgeschnitten waren, hatten bereits am ersten Tag ebenfalls Versuche unternommen, zu den deutschen Linien durchzubrechen. Einigen gelang es, die meisten jedoch wurden von den Sowjets unterwegs gestellt, zusammengeschossen oder in die Gefangenschaft abgeführt.
Wieder andere hatten sich in ihren kleinen Schneeburgen oder in winzigen Waldstücken festgesetzt, und verteidigten sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen die immer wieder anstürmenden Russen. Kaum einer dieser Stützpunkte besaß noch Funkverbindung zu seinem Regiment oder zur Division. Sie kämpften auf verlorenem Posten, und sie wußten das. Trotzdem hofften sie insgeheim, ein Entlastungsangriff der Kameraden würde sie aus ihrer schrecklichen Lage befreien. Eine Hoffnung, die nur in wenigen Fällen Erfüllung finden sollte.
Anderthalb Kilometer tief und zwei Kilometer breit ist die Durchbruchsstelle bei Marino. Nennenswerter Widerstand wird kaum noch geleistet. Die sowjetische Angriffswalze rollt, die befürchtete Krisensituation im Raum der 18. deutschen Armee ist eingetreten.
Generalmajor Duchanow erhält die Nachricht vom Durchbruch zu einer Zeit, da er längst alle Hoffnungen aufgegeben hatte, daß seine Gardeschützen jemals das Ostufer der Newa erreichen würden.
„Das ist fürchterlich", hatte er noch vor 30 Minuten zu seinem Stabschef gesagt, der ihm die Verlustziffern der Gardeschützenregimenter bekanntgab. „Allein im Raum Marino-Gorodok über 3000 Tote und Verwundete! Eine niederschmetternde Bilanz!"
Und jetzt diese überraschende Wende!
Generalmajor Duchanow erkennt die sich ihm bietende Chance. Er handelt sofort und befiehlt: „Alle verfügbaren Regimenter in den Durchbruchsraum. Panzer und schwere Waffen nach vorn."
Duchanow nimmt sogar das Risiko auf sich, die Reste der 86. Schützendivision, die vor Schlüsselburg kämpft, von dort abzuziehen und in die Lücke zu werfen.
Innerhalb weniger Stunden schafft so der Oberkommandierende der 67. russischen Armee die Masse von insgesamt drei Elite-Schützendivisionen in den Einbruchsraum.
Sein letzter Befehl lautet: „Alle Panzerabteilungen überqueren die Newa, stoßen den Infanterieverbänden nach, um dann nach Norden, Süden und Osten auszufächern."
Das hört sich einfach an. In der Praxis jedoch stehen diesem Befehl schier unüberwindbare Schwierigkeiten im Weg. Die Newa ist an der Einbruchsstelle 800 Meter breit. Bis über zwei Meter hoch liegt teilweise der Schnee. Da und dort hat ihn der Wind zu regelrechten fest vereisten Barrieren zusammengepreßt. Hinzu kommt noch, daß der Fluß an verschiedenen Stellen von den Deutschen vermint worden ist. Außerdem gibt es Flächen, wo sich das Eis so stark geworfen hat, daß kein Fahrzeug darüber hinwegkommt.
Diese Hindernisse hatte die deutsche Führung in ihren Verteidigungsplan einkalkuliert. Die ganze Abwehrtaktik konzentrierte sich deshalb mehr oder weniger auf angreifende Feindinfanterie. Mit der Möglichkeit, die Sowjets könnten kurzfristig Panzer und schwere Waffen ins Gefecht bringen, wurde nicht gerechnet.
 
Generalmajor Duchanow, dynamisch und von unerbittlicher Härte, löst dieses Problem auf seine Art. Mit Spezialpioniereinheiten rückt er den Hindernissen auf der Newa zu Leibe. Schneepflüge, Bulldozer, ganze Bataillone von zivilen Arbeitskommandos - vorwiegend Komsomolzenverbände (sowjetischen Jugendorganisation) - schaufeln, baggern und pflügen Panzerfurten frei, ebnen das holprige Eis der Newa ein. Währenddessen beginnen Minenspezialisten der 67. sowjetischen Armee mit der Räumung zahlreicher Minenfelder. Ein tödliches Geschäft. Alle paar Minuten rumst es, fliegt eine Mine in die Luft, werden Menschen in Fetzen gerissen, verstümmelt.
Generalmajor Duchanows Panzerarmada steht mit laufenden Motoren am Westufer der Newa. Die Meute der stählernen Ungetüme muß in die Schlacht geworfen werden, ehe die Deutschen ihrerseits Gegenmaßnahmen ergreifen können. Jede vergeudete Minute kann über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Das noch vor wenigen Stunden weit entfernte Operationsziel der Sowjets ist nun, nach dem geglückten Durchbruch, in greifbare Nähe gerückt. Diese einmalige Chance läßt sich Duchanow nicht entgehen.
Von seinem vorgeschobenen, fliegenden Gefechtsstand aus verfolgt er mit Ungeduld die Räumungsarbeiten.
„Schneller, schneller!"
Ordonnanzen flitzen los, überbringen Befehle, die alle denselben Tenor aufweisen: „Macht nicht so langsam, sonst steht der Sieg auf dem Spiel, und alle bisherigen Blutopfer sind umsonst gewesen."
Die Pioniere und Arbeitsbrigaden schuften bis zum Umfallen. Zäh, verbissen, fluchend bewältigen sie in zweieinhalb Stunden das ihnen abverlangte Mammutprogramm. Eher als Duchanow angenommen hatte, wird ihm gemeldet:
„Newa minenfrei. Der Fluß kann von den Panzern überquert werden."
Generalmajor Duchanow kann zufrieden sein. Er gibt grünes Licht für seine T 34 und für die mechanisierten Verbände, für die Mot.-Artillerie.
„Auf zu den Sinjawino-Höhen! Schlagt die Faschisten!"
Mit dieser Kampfparole brausen die sowjetischen Panzerverbände los. Sie preschen mit heulenden Motoren über das Eis der Newa und erscheinen zu einem Zeitpunkt auf dem Schlachtfeld, als die deutsche Führung das ganze Ausmaß des Fiaskos noch nicht einmal annähernd erkennen kann.
Über die tief verschneite Moor- und Steppenlandschaft jagt ein Geländekübel.
Der Fahrer holt alles aus dem Wagen heraus. Er manövriert ihn in halsbrecherischer Manier über vereiste Schneelöcher, so daß er einige Male umzukippen droht.
 
Neben dem Fahrer sitzt Oberstleutnant Dr. Kleinhenz, der Kommandeur des Grenadierregiments 401, und hinten im Fond kauert der Regimentsadjutant, die schußbereite MPi auf den Knien.
Beide Offiziere befinden sich auf dem Weg in die vorderste Linie, in den Einbruchsraum.
„Ich muß versuchen zu retten, was noch zu retten ist", hatte Dr. Kleinhenz seinem Regimentsstab eröffnet, als das Ausmaß der Katastrophe offenbar geworden war.
„Erlauben Sie mir, daß ich Sie begleite, Herr Oberstleutnant?" hatte der Adjutant seinen Chef gefragt und dessen Zustimmung erhalten. „Vielleicht gelingt es uns, wenigstens da und dort eine Widerstandslinie aufzubauen."
Der Adjutant bewundert die Entschlossenheit und den Mut seines Kommandeurs. Andere würden in solch einem Fall ihren Gefechtsstand zurückverlegen und im übrigen die „Entwicklung der Lage" abwarten.
Der Oberstleutnant sucht mit dem Glas das Gelände ab, ganz auf seine Aufgabe konzentriert. Ein Blick auf sein Gesicht läßt die Sorge über den Zusammenbruch seines Regiments offenbar werden.
Der Fahrer, der den Kübel immer noch mit Vollgas voranjagt, sieht kurz herüber.
„Wie weit noch? Das Gelände wird immer schwieriger", stellt er besorgt fest. Doch er bekommt keine Antwort.
Es geht jetzt auf die Höhe 348 zu, die in vier Kilometern Breite das Gelände von Westen nach Osten durchschneidet.
„Dort rauf!" befiehlt der Oberstleutnant.
Sofort legt der Fahrer den Geländegang ein, gibt vorsichtig Gas. Aber alle Kunst nützt hier nichts, der klapprige Kübel schafft die Steigung nicht, die Räder rutschen durch.
Da läßt Dr. Kleinhenz anhalten. „Stoßen Sie zurück", befiehlt er dem Mann am Steuer, „und warten Sie hier auf uns. Wenn wir in einer Stunde nicht da sind, fahren Sie zum Gefechtsstand zurück."  
 

   

Der Fahrer sagt, er würde nicht ohne seinen Kommandeur abhauen, aber Dr. Kleinhenz besteht auf seiner Anordnung. „Das ist ein Befehl", wendet er sich an den Obergefreiten und winkt seinem Adjutanten. „Kommen Sie!"
Vom Kamm der Höhe aus werfen beide einen Blick auf das vor ihnen liegende Gelände. Es ist der Verteidigungsabschnitt des I. und II. Bataillons. Er erstreckt sich zwei Kilometer tief bis zur Newa hin. Welliges, unübersichtliches Steppenland mit einigen kleinen Schluchten. Dazwischen stützpunktartig verteilte Kampfbunker, Gräben, zur Rundumverteidigung eingerichtete MG-Stellungen, die sich in ihrem Wirkungsbereich überlappen. Dahinter aber ist leerer Raum.
In diesem Augenblick pfeift es heran und schlägt rechts neben den Offizieren ein. „Weg von hier!" befiehlt Dr. Kleinhenz. „Wenn wir in gerader Richtung weitergehen, müssen wir auf die Gefechtsstraße des I. Bataillons stoßen. Das sind meiner Schätzung nach höchstens noch 700 Meter."
Minuten später sind sie im größten Schlamassel. Ringsherum kracht es. Einschläge, daß die Erde bebt. Eruptionen aus Erdbrocken und Schnee. Die Russen schießen aus Dutzenden von Rohren Sperr- und Vernichtungsfeuer, um zu verhindern, daß das GR 401 seine Eingreifreserven heranführt, die freilich nicht existieren. Oberstleutnant Dr. Kleinhenz besitzt nicht einen Zug Reserve, den er in den Kampf hätte werfen können.
Der Adjutant sieht seinen Kommandeur fragend an, doch der zuckt nur die Schulter.
„Es hilft alles nichts, mein Lieber. Wir müssen durch das Artilleriefeuer. Los!"
Sie rennen, daß ihnen die Zunge aus dem Hals hängt, werfen sich, wenn es gar zu dick kommt, vorübergehend in Deckung, springen dann wieder auf und laufen weiter.
Einmal geraten sie in den Feuerschlag einer „Stalinorgel". Die Welt scheint unterzugehen. Aber sie überleben es.
„Da haben wir aber noch mal Schwein gehabt", sagt der Oberstleutnant mit rauer Stimme. „Weiter! Gleich haben wir's geschafft."
Und tatsächlich tackern plötzlich vor ihnen Maschinengewehre. Aber es sind russische. „Vorsicht, Herr Oberstleutnant!" warnt der Adjutant.
Doch da peitschen in rasender Schußfolge MG-Feuerstöße.
„Das ist ein MG 42, Herr Oberstleutnant." Der Adjutant ist heilfroh, endlich auf eigene Leute zu stoßen.
Unter dem Scheitelkamm eines niedrigen Höhenrückens, in einer Linie nebeneinander kniend, sind an die zwanzig Grenadiere damit beschäftigt, Deckungslöcher auszuheben. Russische Maschinengewehre beharken sie. Aber die Soldaten scheren sich nicht drum.
„Die sind ja wähnsinnig!" stößt Dr. Kleinhenz entsetzt hervor. Unwillkürlich bleiben er und sein Adjutant stehen.
Angeführt wird die Gruppe von einem jungen Leutnant, dessen Kampfanzug über und über mit Blut besudelt ist. Das rechte Hosenbein ist aufgefetzt, darunter ein blutdurchtränkter Verband. Das Gesicht des Offiziers ist fahl, hager, von einem Dreitagebart umwuchert.
Auf einen Knüppel gestützt, gibt er mit ruhiger Stimme seine Befehle, weist den etwas abseits von der schanzenden Gruppe in Stellung gegangenen MG-Schützen ein, aufrecht stehend und dem feindlichen Feuer ausgesetzt.
Entweder ist dieser Offizier schon so fertig, daß er nicht mehr bemerkt, welcher Gefahr er sich aussetzt, oder er hat Nerven wie Drahtseile.
Dr. Kleinhenz kann es nicht mehr mit ansehen, wie die Maschinengewehrgarben rechts und links von dem Leutnant den Boden furchen. Er rennt geduckt auf ihn zu und brüllt: „Nun gehen Sie schon in Deckung, Leutnant!"
Dieser, sich schwer auf den Knüppel stützend, wendet langsam den Kopf.
Als er den Regimentskommandeur erkennt, strafft sich seine hagere Gestalt. Die linke Hand geht mechanisch zum Stahlhelmrand, dann meldet er:
„Melde gehorsamst: Leutnant Krause, I. Bataillon, 3. Kompanie, mit einundzwanzig Mann und einem MG."
Der Kommandeur des GR 401 erwidert die Ehrenbezeigung.
„Danke. Aber jetzt runter in Deckung!" befiehlt er fast schroff.
Da lächelt der Leutnant bitter und antwortet:
„Geht leider nicht, Herr Oberstleutnant. Wenn ich erst mal unten bin, komme ich so schnell nicht wieder hoch. Da bleibe ich also lieber stehen."
Dem Regimentskommandeur schnürt`s die Kehle zusammen. Er begegnet dem brennenden, spöttisch-trotzigen Blick dieses Leutnant Krause, den er nie zuvor gesehen hat, und weiß keine Antwort.,
Der MG-Schütze jagt wieder einen Feuerstoß hinaus. - Ein russisches Maxim-Gewehr antwortet kurz, aber die Geschosse gehen hoch übers Ziel hinaus. Noch einmal schießt der MG-Schütze, dann brüllt er dem Leutnant zu: „Geschafft! Die hauen ab, Herr Leutnant!"
„Feuer einstellen!" befiehlt Krause. Und sich an die schanzenden Grenadiere wendend: „Nun macht voran, Jungs. Lange dauert es bestimmt nicht, dann kommen sie wieder."
Nach diesem Befehl scheint sich der Leutnant wieder des anwesenden Regimentskommandeurs zu erinnern. Nach einem schnellen Blick in die Runde humpelt er Dr. Kleinhenz entgegen, aber dieser winkt ab.
„Nicht doch, Herr Leutnant. Ich habe noch gesunde Beine." Er geht auf den jungen Offizier zu und schüttelt diesem beide Hände. Es ist eine für ihn außergewöhnliche Geste - gefühlsmäßige Reaktionen sind sonst nicht seine Sache.
Krause, durch die Spontaneität seines Regimentskommandeurs sichtlich gerührt, ist eisern bemüht, sich nichts davon anmerken zu lassen. Betont forsch wendet er sich an den Oberstleutnant.
„Darf ich mir gehorsamst erlauben, Herrn Oberstleutnant in die Lage einzuweisen?"
„Ja! Ich bitte darum", antwortet Dr. Kleinhenz.
Krauses Bericht bringt wenig Klärung. Nach mehrmaligem Artilleriefeuerschlag brach die vorderste Uferstellung zusammen, und die Russen griffen in Stärke von mindestens zwei Bataillonen an. Zusammengehauene Stellungen, Panik bei den schwachen Kompanien, die Hälfte aller MG außer Gefecht, Verwundete, Tote, sämtliche Fernsprechverbindungen unterbrochen. Und massenhaft angreifende Rotarmisten. Erbitterte Nahkämpfe.
Dies alles ist für Dr. Kleinhenz nichts Neues. Interessant hingegen ist Krauses Hinweis, daß die Russen in zwei starken Stoßkeilen angreifen, offenbar in der Absicht, das GR 401 in zwei Teile zu zerschneiden.
„Merkwürdigerweise marschierten die russischen Angriffsspitzen nicht wie erwartet weiter südwärts, sondern sie drehten ein", weiß der Leutnant noch zu berichten. Er mutmaßt folgerichtig: „Die Erklärung für dieses sonderbare Verhalten ist wohl die: Die Russen beabsichtigen, den Verteidigungsraum unseres Regiments vollends in ihre Hand zu bekommen, ehe sie weiterstoßen. Oder die Infanterie verhält, säubert den Kampfraum, bis die Panzer nachgekommen sind."
„Ich fürchte fast, Sie haben recht", murmelt Dr. Kleinhenz nachdenklich. Die Frage, wo sich der nächste Bataillonsgefechtsstand befinde, kann der Leutnant nicht beantworten. Er erzählt in knappen Umrissen, wie es ihm selbst erging. Drei sowjetische Kompanien standen gegen die 3. Kompanie, die aus 45 Mann bestand und nach halbstündigem Kampf aufgerieben war, zusammengeschossen, in alle Winde zerstreut. Der Kompaniechef fand den Tod. Er, Leutnant Krause, konnte sich mit vier Mann nach Südwesten durchschlagen; bei einem Zusammenstoß mit einer vorgeprellten russischen Sturmgruppe wurde er verwundet: Oberschenkelsteckschuß. Dann stießen er und seine vier Männer auf Versprengte, die sich ihnen sofort anschlossen.
„Aus welchen Einheiten?" will Dr. Kleinhenz wissen.
„Ich hatte noch keine Zeit, danach zu fragen, Herr Oberstleutnant."
„Und was spielt sich hier ab?" fragt Dr. Kleinhenz.
„Wir befinden uns 800 Meter südwestlich der H-Linie (ein Gelände, das ursprünglich einmal als Auffangstellung für das I. Bataillon gedacht war), und nördlich von uns liegt Moorgelände, rechts abgegrenzt durch einen Höhenzug, der panzersicher ist", erwidert Leutnant Krause.
„Ich kenne dieses Gelände wie meine eigene Hosentasche, weil ich es selbst mit erkundet habe", fährt Krause fort. „Hervorragendes Schußfeld bis über 900 Meter, Herr Oberstleutnant. Wenn wir uns entsprechend gut eingegraben haben, können wir die Russen eine ganze Weile halten."
„Und die Knallerei vorhin?" erkundigt sich Dr. Kleinhenz.
„Ohne Bedeutung, Herr Oberstleutnant", erklärt Krause. „Ein russischer Spähtrupp, fünfzehn Mann stark. Wir konnten ihn abwehren."
Dr. Kleinhenz nickt. „Dies hier ist wirklich eine ausgezeichnete Riegelstellung, aber die Russen werden wiederkommen, Artillerie einsetzen, vielleicht sogar Panzer ... und Sie sind verwundet, Krause", sagt der Oberstleutnant besorgt. „Sie gehören eigentlich auf den Hauptverbandsplatz. Wie lange wollen Sie das durchhalten? Und wenn Sie aus den Stiefeln kippen, was dann? Sie haben nicht einen Unteroffizier, der das Kommando übernehmen könnte."
„Ich denke vorerst auch nicht daran, das Kommando abzugeben, Herr Oberstleutnant", erwidert Krause fast schroff. „Und was meine Verwundung angeht - es ist meine vierte, wenn ich das gehorsamst feststellen darf. Ich weiß ganz genau, was ich mir zumuten kann. Abgesehen davon, Herr Oberstleutnant: Irgendwann muß sich die Division wohl dazu aufraffen, einen Gegenstoß zu starten. Bis dahin können Herr Oberstleutnant auf mich zählen."
„Ich werde versuchen, Ihnen Verstärkung zu schicken", wendet sich der Oberstleutnant wieder an den Kommandoführer und schüttelte ihm nochmals die Hand. Dann geht er hinüber zu den Landsern und tut das gleiche auch bei diesen. Wortlos! Jede Aufmunterung hätte wie eine Phrase gewirkt. Und die Landser verstehen ihren Regimentskommandeur. „Mach dir mal keine Sorgen um uns", scheinen ihre Blicke auszudrücken. „Wichtiger ist, daß du dein Regiment, falls es ein solches überhaupt noch gibt, wieder in den Griff bekommst."
Das sollte Oberstleutnant Dr. Kleinhenz jedoch nicht möglich sein.
Wie katastrophal die Lage sich inzwischen entwickelt hat, erkennt der Regimentskommandeur spätestens, als er mit seinem Adjutanten in der Absicht, den Widerstand wenigstens an einigen Stellen neu zu organisieren, weiter in den Einbruchsraum vordringt.
Nachdem beide Offiziere die sogenannte H-Linie - jenen schmalen Höhenrücken, an dessen westlichem Ende Leutnant Krause mit einer Handvoll Grenadiere Riegelstellung bezogen hat - überquert haben, liegt vor ihnen das Schlachtfeld in seiner ganzen Breite und Tiefe: die Bunkerlinien, die Drahtverhaue, inzwischen in Fetzen geschossen, die zahlreichen, aber kleinen Stützpunkte, die Verteidigungsnester.
In diesem Gelände brodelt - nach kurzer Gefechtspause - wieder die Schlacht. Wohin das Auge auch blickt: Einschläge, Qualmwolken, die zuckenden Leuchtspurgarben der Maschinengewehre und - massenhaft russische Infanterie. Sie kämpft, schwärmt aus und marschiert. In riesigen Kolonnen, die bis zum Newa-Ufer reichen.
Am Gefechtslärm kann Dr. Kleinhenz erkennen, daß deutscher seits nur noch vereinzelt Widerstand geleistet wird. Am linken Flügel, an der Nahtstelle zwischen I. und II. Bataillon, geht sowjetische Artillerie in Stellung. Und daneben, durch das Glas deutlich sichtbar, fährt Pak auf.
Erregt über dieses Fiasko und entschlossen, zu retten, was noch zu retten ist, eilt Dr. Kleinhenz mit seinem Adjutanten nach vorn. Es kommen ihnen Trupps von Verwundeten entgegen, abgekämpfte, mutlos gewordene Gestalten, denen noch das Grauen in den Augen sitzt, kaum ansprechbar und nur von dem einen Wunsch besessen: Fort aus dieser
Hölle!
Dr. Kleinhenz läßt sie ziehen. Die meisten von ihnen bemerken den Oberstleutnant gar nicht. Sie trotten stumpf davon, apathisch gewordene Opfer der Schlacht.
Einige fragt der Oberstleutnant nach der Einheit, woher sie kommen, wo die Russen stehen, wo der nächste deutsche Gefechtsstand liege. Die Antworten sind so widersprüchlich, daß er es aufgibt. Das Fazit der Aussagen: Es geht alles drunter und drüber, und der Russe greift von allen Seiten an!
Einige hundert Meter weiter stößt Dr. Kleinhenz auf zirka vierzig Mann, die - voll bewaffnet und von einem Oberfeldwebel angeführt -zurückgehen. Da weit und breit keine Russen zu sehen sind, gerät Dr. Kleinhenz begreiflicherweise in Zorn.
Die MPi im Anschlag, stellt er sich den Zurückgehenden entgegen und brüllt den Oberfeldwebel an:
„Was für ein Sauhaufen ist das? Etwa Ihrer, Oberfeldwebel?"
In der Erregung hervorgestoßen, ist des Oberstleutnants Ton verletzend. Der mit beiden Eisernen Kreuzen ausgezeichnete Oberfeldwebel scheint es gar nicht zu bemerken. Erstaunt darüber, einen Stabsoffizier so weit vorn anzutreffen, nimmt er Haltung an und sagt:
„Zum Teil sind es meine Leute, Herr Oberstleutnant, zum Teil Versprengte. Ich weiß nicht, woher sie kommen."
„Warum geht ihr zurück?" fragt Dr. Kleinhenz.
„Es sind Melder vom I. Bataillon an uns vorbeigekommen, die haben gesagt, russische Panzer kommen", antwortet der Oberfeldwebel.
„Und da haut ihr einfach ab?" fragt der, Oberstleutnant in scharfem Ton.
„Erlaube mir zu bemerken, Herr Oberstleutnant, daß es weiter vorn überhaupt keinen Zweck hat, in Stellung zu gehen. Wenn die Panzer wirklich anrollen, machen die Mus aus uns."
„Und wo wollen Sie dann in Stellung gehen?" fährt ihn Dr. Kleinhenz an.
„Am besten wäre es diesseits der H-Linie, Herr Oberstleutnant", lautet des Oberfeldwebels Antwort.
„Kehrt marsch, und alles mir nach!" befiehlt der Kommandeur des GR401. Und der Oberfeldwebel antwortet: „Wie Herr Oberstleutnant befehlen. Ich darf aber noch einmal darauf aufmerksam machen, daß es in dieser Richtung nicht ein einziges Deckungsloch gibt. Außerdem ist das Gelände vom Feind eingesehen."
Wie sich gleich darauf zeigt, hätte Dr. Kleinhenz besser daran getan, die Warnung des Oberfeldwebels ernst zu nehmen.
Keuchend, in immer schnellere Gangart verfallend, stapfen Dr. Kleinhenz, sein Adjutant, der Oberfeldwebel und die Grenadiere durch den knietiefen Schnee auf eine ziemlich flache Bodenerhebung zu, die - weil sie gutes Schußfeld bietet - dem Oberstleutnant zur Verteidigung geeignet erscheint.
Umsonst warnt der Oberfeldwebel noch einmal: „Vorsicht! Da sind wir auch eingesehen."
„Zum Teufel, Oberfeldwebel, können Sie mir eigentlich sagen, was hier nicht von den Russen eingesehen ist?" erwidert der Regimentskommandeur hitzig und wohl in dem Glauben, der Mann übertreibe absichtlich.
Doch kaum haben sie die oben abgeplattete Bodenerhebung erreicht, rauscht es schon heran und schlägt vor ihnen ein. Donnernde, gar nicht weit entfernte Abschüsse mehrerer Geschütze und Sekunden später krachende Einschläge. Rechts und links, hinten und vorn. Die krepierenden Granaten streuen einen Splitterregen, der zirpend herumfliegt und neben den Grenadieren in den Schneeboden patscht.
„Verdammt gut gezielt. Die wollen sich diesen verfluchten Hügel freihalten", brüllt der Adjutant seinem Kommandeur zu.
„Einzeln zurückarbeiten!" befiehlt der Oberstleutnant, der nun eingesehen hat, daß hier auf dieser Erhebung, auch wenn sie für eine Verteidigung noch so günstig ist, kein Blumentopf zu gewinnen ist.
Etwa 60 Meter setzen sie sich ab, aber die Russen stellen das Feuer nicht ein. Sie streuen mit ihren Geschützen das Gelände ab, so daß niemand seinen Standort auch nur um einen Meter verändern kann. Das Genick eingezogen, den Körper an den Boden gepreßt, mit hellwachem Bewußtsein jeden Einschlag registrierend und wehrlos dem Splitterhagel ausgesetzt, liegen sie da. Doch diesmal kommen sie alle noch mit dem Schrecken davon. Genauso schlagartig, wie das Artilleriefeuer einsetzte, hört es wieder auf.
„Gott sei Dank, das hätten wir überstanden", sagt erleichtert und so laut, daß es alle hören können, der Adjutant.
Kaum hat er den Satz zu Ende gesprochen, reißt es den Oberfeldwebel vom Boden hoch. „Panzer!" ruft er.
Mit einem Satz ist auch Dr. Kleinhenz auf den Beinen, lauscht, schüttelt unwillig den Kopf, weil ihm noch die Ohren dröhnen und brausen.
„Es sind Panzer, Herr Oberstleutnant", wiederholt der Oberfeldwebel und blickt seinen Regimentskommandeur fragend an.
Jetzt hören auch die anderen das Geräusch vieler Motoren. Die Luft ist angefüllt vom Kreischen der Panzerketten.
„Das sind schätzungsweise zwanzig Panzer", wendet sich der Oberfeldwebel an seinen Regimentskommandeur.
„Los, rauf auf den Buckel", kommandiert Dr. Kleinhenz und gibt dem Adjutanten und dem Oberfeldwebel einen Wink.
Eng an den Boden gepreßt, liegen die drei im Schnee und spähen mit den Gläsern nordwärts.
Es sind T 34 und zwei KW I, insgesamt 14 Stück, die rasch durch den Schnee heranrollen und dann plötzlich aus allen Waffen feuern.
„Die machen alle zur Sau, die noch vorn in den Löchern liegen", kommentiert der Oberfeldwebel die heranbrausende Panzerarmada.
„Wir müssen von hier weg", sagt der Adjutant erregt und erntet ein bitteres Lachen des Oberfeldwebels.
„Wohin denn? Es gibt weit und breit keine Deckung, und bis zur H-Linie schaffen wir es keinesfalls."
Es bleibt ihnen also keine andere Wahl, als sich hinter der Bodenerhebung in den Schnee zu legen und abzuwarten.
Kaum zehn Minuten später sind die Panzer da. Sie pflügen durch den metertiefen Schnee, schleudern ihn in flutenden Wellen hoch und kommen unaufhaltsam näher.
Von dem Häuflein deutscher Infanteristen nehmen sie keine Notiz. Die russischen Panzerkommandanten mit ihren Lederhelmen stehen bis zur Hüfte im Turm. So sicher fühlen sie sich.
„Da fahren sie dahin und kommen hoffentlich nicht wieder", sagt der Regimentsadjutant und atmet schwer.
In diesem Augenblick geschieht es. Der Panzerkommandant des letzten T 34 dreht sich zufällig im Turm um. Den Deutschen stockt der Herzschlag. Sie sind erkannt worden.
Aufkreischen der bremsenden Raupenketten. Ein Hagel weggeschleuderter Eisbrocken. Der T 34 stellt sich quietschend quer. Dann Kommandos, nur undeutlich im Lärm der Motoren zu hören. Der schwere Turm schwenkt herum, und Sekunden später ein brüllender Abschußknall.
Nicht mehr als vier Sprenggranaten verwendet der russische Panzerkommandant, dann dreht der T 34 wieder bei und braust den anderen Kampfwagen nach.
Fünf Grenadiere des GR 401 sind tot, drei mehr oder minder schwer verwundet. Unter den Verwundeten befinden sich auch Oberstleutnant Dr. Kleinhenz und sein Adjutant.
Das GR 401 hat seinen Kommandeur verloren.
Im Hauptquartier des AOK 18 (Armeeoberkommando 18) sind eben die letzten Meldungen über die russische Newa-Offensive eingegangen.
Generaloberst Lindemann, den Blick auf die Lagekarte gerichtet, auf der die roten Pfeile eine allzu deutliche Sprache sprechen, ist über das Ausmaß der Katastrophe bestürzt. Mit einem einzigen Blick ist zu ersehen, was sich im Verteidigungsraum der 18. Armee für eine verhängnisvolle Entwicklung abzeichnet.
Lindemanns Stabschef skizziert denn auch in seinem Lagevortrag treffend und nüchtern die gegenwärtige Situation in wenigen Sätzen:
„Anhand der vorliegenden Meldungen von der Front beabsichtigt General Goworow (Oberkommandierender der Wolchow-Front), alle verfügbaren Kräfte seiner Armee in die Einbruchslücke bei Marino zu werfen. Das Ziel dieser klar erkennbaren Operation: Durchstoß durch den »Flaschenhals  und Vereinigung mit den aus Osten angreifenden Verbänden. Dann Abschwenken nach Süden, um unsere Verteidigungsstellungen an der Newa und an der Ostseite unserer Front aufzurollen.
Daraus ergeben sich zwangsläufig folgende erste Angriffsschwerpunkte: Erstens die Arbeitersiedlung Poselok 5 an unserer Ostflanke. Hier müssen die Russen schwerpunktmäßig angreifen, weil da die einzige brauchbare Straße sowohl nach Norden zum Seeufer hin als auch nach Süden zu den Sinjawino-Höhen und zur Kirow-Bahn führt. Zweitens: Angriffsschwerpunkt Raum Gorodok und Elektrizitätswerk. Hier blockieren wir den Russen den direkten und kürzesten Weg zu den Sinjawino-Höhen."
„Und ausgerechnet an diesen Stellen haben wir nur schwache Kräfte zur Verfügung", wirft Generaloberst Lindemann mit leiser Stimme ein und beginnt im Lageraum auf und ab zu gehen.
„Sowohl bei Poselok 5 als auch bei Gorodok können wir uns bestenfalls 24 Stunden halten, Herr Generaloberst", gibt der Stabschef zu bedenken.
 

   

 
In diesem Augenblick geschieht es. Der Panzerkommandant des letzten T 34 dreht sich zufällig im Turm um. Den Deutschen stockt der Herzschlag. Sie sind erkannt worden.
Aufkreischen der bremsenden Raupenketten. Ein Hagel weggeschleuderter Eisbrocken. Der T 34 stellt sich quietschend quer. Dann Kommandos, nur undeutlich im Lärm der Motoren zu hören. Der schwere Turm
schwenkt herum, und Sekunden später ein brüllender Abschußknall.
Nicht mehr als vier Sprenggranaten verwendet der russische Panzerkommandant, dann dreht der T 34 wieder bei und braust den anderen Kampfwagen nach.
Fünf Grenadiere des GR 401 sind tot, drei mehr oder minder schwer verwundet. Unter den Verwundeten befinden sich auch Oberstleutnant Dr. Kleinhenz und sein Adjutant.
Das GR 401 hat seinen Kommandeur verloren.
Im Hauptquartier des AOK 18 (Armeeoberkommando 18) sind eben die letzten Meldungen über die russische Newa-Offensive eingegangen.
Generaloberst Lindemann, den Blick auf die Lagekarte gerichtet, auf der die roten Pfeile eine allzu deutliche Sprache sprechen, ist über das Ausmaß der Katastrophe bestürzt. Mit einem einzigen Blick ist zu ersehen, was sich im Verteidigungsraum der 18. Armee für eine verhängnisvolle Entwicklung abzeichnet.
Lindemanns Stabschef skizziert denn auch in seinem Lagevortrag treffend und nüchtern die gegenwärtige Situation in wenigen Sätzen:
„Anhand der vorliegenden Meldungen von der Front beabsichtigt General Goworow (Oberkommandierender der Wolchow-Front), alle verfügbaren Kräfte seiner Armee in die Einbruchslücke bei Marino zu werfen. Das Ziel dieser klar erkennbaren Operation: Durchstoß durch den »Flaschenhals* und Vereinigung mit den aus Osten angreifenden Verbänden. Dann Abschwenken nach Süden, um unsere Verteidigungsstellungen an der Newa und an der Ostseite unserer Front aufzurollen.
Daraus ergeben sich zwangsläufig folgende erste Angriffsschwerpunkte: Erstens die Arbeitersiedlung Poselok 5 an unserer Ostflanke. Hier müssen die Russen schwerpunktmäßig angreifen, weil da die einzige brauchbare Straße sowohl nach Norden zum Seeufer hin als auch nach Süden zu den Sinjawino-Höhen und zur Kirow-Bahn führt. Zweitens: Angriffsschwerpunkt Raum Gorodok und Elektrizitätswerk. Hier blockieren wir den Russen den direkten und kürzesten Weg zu den Sinjawino-Höhen."
„Und ausgerechnet an diesen Stellen haben wir nur schwache Kräfte zur Verfügung", wirft Generaloberst Lindemann mit leiser Stimme ein und beginnt im Lageraum auf und ab zu gehen.
„Sowohl bei Poselok 5 als auch bei Gorodok können wir uns bestenfalls 24 Stunden halten, Herr Generaloberst", gibt der Stabschef zu bedenken.
 
„Die einzige denkbare Maßnahme, die russische Walze zu bremsen, ist der sofortige Gegenstoß, Herr Generaloberst", fordert der Stabschef. „Andernfalls..."
„Ja, ja, ich weiß, was Sie sagen wollen. Andernfalls bekommen wir eine zweite Stalingrad-Auflage", unterbricht ihn der OB der 18. Armee gereizt.
 
„Dies muß allerdings befürchtet werden", sagt der Stabschef und sucht Lindemanns Blick.
Sofortiger Gegenstoß, Einsatz der einzigen Armeereserve! Eine Gleichung mit vielen Unbekannten! Aber Lindemann, ein illusionsloser und nüchterner Armeeführer, weiß andererseits nur zu gut, was auf dem Spiel steht, wenn die russischen Stoßkeile nicht zum Stehen gebracht werden. Schweren Herzens sagt der Generaloberst schließlich:
„Also gut. Rufen Sie sofort die 96. Infanteriedivision ab. Noeldechen soll noch heute Abend aus dem Raum Sinjawino in nordwestlicher Richtung angreifen. Die ,Tiger* und die Acht-acht-Flak (8,8 cm) werden unterstellt."                                             \
Damit sind die Würfel gefallen. Aber Lindemann ist nicht wohl bei dem Gedanken, seine Reserve schon jetzt ins Gefecht schicken zu müssen, zumal die 96. ID nicht die volle Gefechtsstärke besitzt, sondern nur mit fünf Grenadierbataillonen antreten kann. Und das nicht einmal im geschlossenen Einsatz, weil die Division nach Lage der Dinge auf mehrere Schwerpunkte verteilt werden muß. Seinem Tagebuch vertraut der Generaloberst an: „... ich bin also wieder einmal gezwungen, die verhängnisvolle Strategie listenreicher Flickschusterei zu betreiben. Es wird zusammengekratzt, was noch vorhanden ist, statt mit Großverbänden zum erfolgversprechenden Gegenschlag auszuholen."
Bei der 96. ID löst der Einsatzbefehl keine Überraschung aus. In wochenlanger, generalstabsmäßiger Kleinarbeit hat General Noeldechen, der Kommandeur der 96. ID, den „X-Tag" vorbereitet.
Seit sich die Anzeichen auf russischer Seite mehrten, daß die Sowjets eine Großoffensive auf den „Flaschenhals" von Schlüsselburg ins Auge faßten, hatte Noeldechen Teile seiner Division noch näher an die möglichen Schwerpunkte herangezogen. So war beispielsweise das Grenadierregiment 284, zeitweilig der 170. ID unterstellt, schon Anfang Januar mit seinem III. Bataillon in das „Scheidislager" gezogen, während das II. Bataillon auf den Sinjawino-Höhen in Bereitstellung ging.
Auch Teile der Divisionsartillerie wurden aus dem Abschnitt der 1. ID herausgezogen und in den Abschnitt der 170. ID verlegt, um die Arbeitersiedlungen P 3, P 2, P l, P 5 und P 7 abzuschirmen.
 

   

 
Mit großer Sorgfalt waren zudem noch die voraussichtlichen Anmarschwege in die Kampfräume erkundet und markiert worden. Regelmäßig durchgeführte Alarmübungen brachten die Bataillone auf schnellste Einsatzbereitschaft.
Nach menschlichem Ermessen konnte kaum mehr etwas schiefgehen. Die 96. ID war für den Einsatz gerüstet. Doch es kam anders.
Die für General Noeldechen wohl größte und auch bitterste Überraschung war die mächtige Feuertiefe des russischen Artillerieschlags. Das um 7.20 Uhr schlagartig einsetzende Trommelfeuer des Feindes traf nicht nur die im vordersten Verteidigungsraum eingesetzten Bataillone und Kompanien, es ging wie ein Hagelsturm auch auf die rückwärtigen Waldlager nieder, in denen die Reserven lagen. Mit unvorstellbarer Wucht prasselte es auf die Anmarschwege, ackerte diese um und zerschlug nicht zuletzt die Feuerräume des Artillerieregiments 196.
Schwer heimgesucht wurde obendrein noch das II. Bataillon GR 284, das, wie schon erwähnt, auf den Sinjawino-Höhen in Bereitstellung lag.
Als das gefechtsführende XXVI. AK (General d. Inf. von Leyser) den Befehl übermittelt bekam, die 96. ID noch in dieser Nacht in den Kampf zu werfen, war dieser Befehl schon nicht mehr durchführbar.
In einem Blitzgespräch schilderte General von Leyser dem OB der 18. Armee die veränderte Situation bei der 96. ID. Der Angriffsbefehl wurde daraufhin zurückgenommen, als neuer Termin der Morgen des 13. Januar festgelegt.
Eine bittere Sache für die ganze Armee, deren Schicksal nach wie vor am seidenen Faden hing, denn die im Kampf stehenden Divisionen waren gegenwärtig einer Belastung ausgesetzt, die an der Grenze des menschlich und militärisch Zumutbaren lag.
Aber selbst wenn General Noeldechen sich über die Schwierigkeiten hinweggesetzt hätte, wäre es unmöglich gewesen, die 96. ID zeitgerecht zum Einsatz zu bringen, weil der Gegner alle Anmarschwege unter pausenloses Stör- und Vernichtungsfeuer genommen hatte. Kein einziges Bataillon wäre ungeschoren in den Bereitstellungsraum gekommen.
Angesichts dieser Lage blieb dem Korps und der Division nur die Hoffnung, nach Einbruch der Dunkelheit losmarschieren zu können.
Inzwischen verstrich aber kostbare Zeit, gingen Stunden verloren, die sehr leicht zum berühmten Zünglein an der Waage werden konnten.
Sieben Stunden ist die Schlacht an der Newa alt, als die Lage bei den deutschen Verteidigern den bislang kritischsten Punkt erreicht.
Vor allem bei Gorodok, dem Zentralstück der deutschen Verteidigungsfront, sieht es böse aus. Das hier fechtende Pionierbataillon 240 unter Major Schulz, der seinen Gefechtsstand im E-Werk aufgeschlagen hat, erlebt die Hölle.
Oberleutnant Winackers 2. Pionierkompanie, die das Krankenhaus und das umliegende Gelände verteidigt, ist am Ende. Die Munition wird knapp. Die Verwundetenzahl steigt stündlich.
Winackers Lage ist besonders schwierig, weil er im Verlauf der unübersichtlichen Kämpfe zwei Züge verloren hat, die nordostwärts abgedrängt worden sind und somit der Kompanie bei ihrer schweren Verteidigungsaufgabe fehlen.
Oberleutnant Winacker hat zwar einen Zug der Radfahrschwadron 240 als Verstärkung erhalten und darüber hinaus auch noch zwei Gruppen Versprengte der Kampfgruppe Garsten, aber sie ersetzen nicht die zwei Züge.
So geschwächt, hat es Winacker nicht verhindern können, daß russische Gardeschützenbataillone bis zum Wäldchen vordringen konnten, das unmittelbar neben dem Krankenhaus liegt und eigentlich nie vom Feind hätte besetzt werden dürfen. Als der Oberleutnant von zwei losgeschickten Spähtrupps die Meldung erhielt, daß es in dem Waldstück von Russen nur so wimmelte, hatte er nur gesagt: „Nun ist die Schweinerei perfekt."
Ihre Chance blitzschnell wahrnehmend, hatten die Sowjets Pak und 7,62-cm-Geschütze ins Wäldchen gebracht und beschießen nun ohne Unterbrechung die schwachen Widerstandslinien von Winackers 2. Pionierkompanie.
Ihre Methode, den Widerstand der Deutschen im Krankenhausbereich zu brechen, ist denkbar einfach und wirkungsvoll: zuerst vier, fünf Minuten toller Feuerzauber auf die erkannten Stellungen der Deutschen, dann blitzschneller Angriff mit kampfstarken Stoßtrupps, die aus MPi-Schützen und Flammenwerfertrupps zusammengesetzt sind.
Zwar war es Winackers Pionieren bis jetzt gelungen, alle Einbruchs- und Durchbruchsversuche abzuwehren, aber wie lange die Kräfte seiner wenigen Leute noch ausreichen werden, das ist ungewiß.
Als Major Schulz, der Kommandeur des Pionierbataillons 240, Oberleutnant Winacker einen Besuch abstattet und die verzweifelte Situation des kleinen Häufleins sieht, ist er entsetzt.
„Brendel und seine 3. Kompanie müssen her", wendet er sich an Oberleutnant Winacker. „Das schaffen Sie nie allein."
„Wenn das möglich wäre, Herr Major, hätte ich nichts dagegen", antwortet Winacker und fügt hinzu: „Aber es muß schnell gehen, Herr Major. Ich kann für nichts mehr garantieren."
„Brendel ist spätestens in einer Stunde da", verspricht der Major. Und er hält sein Wort. Brendels 3. Kompanie eilt zur Verstärkung herbei. Oberleutnant Winacker atmet auf, schöpft wieder Hoffnung.
In einer „fliegenden Lagebesprechung" kommen Winacker und Brendel überein, daß die Befestigung der Krankenhausgebäude und die Absicherung des umliegenden Geländes vorrangig sind.
Beides wird sofort in Angriff genommen. In dieser kritischen Situation beweisen die Männer des Pionierbataillons 240, daß sie zu Recht „Handwerker der Schlachten" genannt werden.
In kürzester Zeit verwandeln Brendels Pioniere das Krankenhaus in eine waffenstrotzende und feuerspeiende Festung. In den Fensternischen werden Maschinengewehr- und Scharfschützen postiert, kugelsichere Brustwehren errichtet und die Kellerfenster so massiv verbarrikadiert, daß sie selbst Pak-Beschuß aushalten können.
Um das Krankenhaus herum aber verlegen die Pioniere ihre letzten Minen, und das bei höchster Lebensgefahr, unter starkem Beschuß russischer Maschinengewehre und Granatwerfer.
 
Kaum sind Brendels Männer mit ihrer Arbeit fertig, beginnt sich das teuflische Karussell wieder zu drehen.
Mörderischer Pak- und Granatwerferbesphuß setzt ein. Dann ganze Salven der „Ratsch-Bumm" (7,62 cm). - Der Dachstuhl des Krankenhauses fängt Feuer. - Unter dem Beschuß der Pak bröckelt die Frontseite des Krankenhauses ab. Die Granaten reißen riesige Löcher heraus.
Danach greifen die Gardeschützen mit lautem Kampfgeschrei an.
Die Rotarmisten, ganz offensichtlich der Meinung, diesmal ein leichtes Spiel zu haben, erleben eine herbe Abfuhr. Als sie in Kompaniestärke bis an die Minensperre herangekommen sind, eröffnen Winackers und Brendels Pioniere das Feuer, tackern die Maschinengewehre, bellen ihnen die Gewehrschüsse der Scharfschützen entgegen.
Der sowjetische Angriff endet blutig. Zu Dutzenden fallen die Russen, zu Dutzenden wälzen sich Verwundete, gellend nach Hilfe schreiend, im Schnee.
 
Wieder einmal ist das Ärgste verhindert worden, hat die schwache deutsche Front bei Gorodok standgehalten. Pioniere eines einzigen Bataillons haben einen zehnfach überlegenen Gegner abgewehrt und keinen Meter Boden abgegeben.
 
Rechts vom Pionierbataillon 240 liegt Hauptmann Irles AA 240. Mit den Resten seiner Aufklärungsabteilung hat er an der Ringstraße Stellung bezogen.
Aufklärungsabteilung und Pionierbataillon, alles zusammen vielleicht knapp 300 Mann, sind die einzigen Kräfte, die noch zwischen den Russen und der rückwärtigen deutschen Kampfzone liegen. Erzielt der Gegner hier einen Einbruch, stehen die Rotarmisten vor den Feuerstellungen der Divisionsartillerie.
Die AA hält ihre Stellungen. Zwar rennen auch hier die Russen pausenlos an, hämmern die Granaten von Pak und Feldgeschützen in die deutschen Feldstellungen, aber die Infanterie der Russen schafft es nicht. Sie verblutet im Abwehrfeuer von Hauptmann Irles MG-Schützen oder endet spätestens im erbarmungslosen Nahkampf.
Einmal - zwischen einem abgeschlagenen Infanterieangriff der Russen und einem eigenen Gegenstoß, bei dem ein verlorengegangener MG-Stand zurückerobert werden sollte - herrschte beim 3. Zug der 2. Kompanie beträchtliche Aufregung. Vor den Stellungen des 3. Zuges tauchte plötzlich eine Gestalt auf. Wankend, mit zerfetzter Uniform und heftig gestikulierend, näherte sich der Mann den deutschen Stellungen.
Der Gefreite Schulze, misstrauisch und aufmerksam, nahm die seltsame Figur bereits ins Visier seines MG. Man konnte schließlich nie wissen, auf welche Tricks die Iwans verfielen. Und dieser Unbekannte kam geradewegs aus der Richtung der Russen.
Schulze ließ den Mann bis auf 80 Meter herankommen, dann rief er ihm zu: „Halt! Stehenbleiben! Parole!"
Der Angerufene antwortete nicht, wollte sich jedoch durch heftige Armbewegungen verständlich machen. Da wurde Schulze nervös. Er hatte schon den Zeigefinger am Abzug, als sein Gruppenführer ihm in den Arm fiel. „Menschenskind, das ist doch einer von uns!"
Der Unteroffizier hatte die Gestalt ebenfalls mit dem Fernglas beobachtet.
Obwohl der Mann in seinem Äußeren kaum von einem Russen zu unterscheiden war, fiel dem Unteroffizier auf, daß er keine Walinkis (Filzstiefel) trug, sondern Knobelbecher.
Kein Rotarmist würde bei dieser Kälte einen Lederstiefel anziehen.
Schulze, immer noch skeptisch, wiegte den Kopf hin und her. „Und wenn's doch 'n Iwan ist und der Kerl eine Mine unter der Weste trägt?"
„Armleuchter", sagte der Unteroffizier nur und rief dem Mann, der aus dem Niemandsland kam, zu, er möge sich beeilen, sonst würden ihm die Russen noch einen verplätten. Doch der Mann hob nur hilflos die Hände. Gleich darauf brach er etwa 30 Meter vor dem MG-Stand zusammen.
„Los, komm mit, wir holen ihn rein. Der ist ja fix und fertig", sagte der Unteroffizier.
Der Soldat, der mit letzter Kraft die deutschen Linien erreicht hatte, war Unteroffizier Uhlmann. Sie brachten ihn sofort zum Gefechtsstand von Hauptmann Irle, der aus allen Wolken fiel, als sich dieses abgerissene Lumpenbündel, das sich kaum auf den Beinen halten konnte, noch einmal zusammenriß und stammelnd hervorbrachte: „Unteroffizier Uhlmann, zwotes Bataillon GR 401, zur Stelle." Dann konnte er nicht mehr und kam ins Wanken.
Zwei Melder fingen ihn auf und legten ihn auf eine Pritsche.
„Los, Decken und Schnaps her, den Sani holen! Und zieht ihm die Stiefel aus", sagte der Hauptmann zu den im Gefechtsstand anwesenden Meldern und Fernsprechern. Die Männer legten den bewußtlosen Kameraden auf eine Pritsche.
Wegen besonderer Tapferkeit vor dem Feind wurde Unteroffizier Uhlmann später im Divisionsgefechtsbericht lobend erwähnt, zum Feldwebel befördert und mit einer Auszeichnung bedacht.
 
Die Angriffe der Russen im Raum Gorodok lassen in den ersten Nachmittagsstunden beträchtlich nach. Offenbar machen sich jetzt doch die enormen Verluste bemerkbar. Als auch nach Einbruch der Dämmerung keine weiteren Großangriffe sowohl im Einbruchsraum wie auch im Abschnitt Gorodok bei AA 240 und Pionierbataillon 240 unternommen werden und der Gegner sich lediglich auf Artillerie- und Granatwerferfeuerüberfälle beschränkt, atmen Führung und Truppe erleichtert auf.
Es sieht so aus, als sei das Ärgste überstanden, und zuversichtlich sehen die Landser der 170. und 227. ID dem neuen Tag entgegen, der durch den Einsatz der 96. Infanteriedivision die große und entscheidende Wende im Kampf um die Newa-Front bringen soll.
Laut Armeebefehl soll der Gegenstoß der 96. ID aus der Linie „Scheidislager" - Raum Gorodok - angesetzt werden. Zum Einsatz gelangen rechts das GR 284 unter Oberst Pohlman mit dem III. Bataillon (Oberleutnant Ruprecht), dem I. Bataillon GR 287 (Oberleutnant Mensing) und II. Bataillon GR 284 (Hauptmann Dresp), links GR 283 unter Oberst Andoy mit dem III. Bataillon und dem II. Bataillon. Dem divisionseigenen Artillerieregiment 196 werden zusätzlich unterstellt: II. und III. Abteilung AR 240 der 170. ID. Das AR 196 selbst kann einsetzen: IV. Abteilung AR 196, ferner die 3. Batterie (im Unterstellungsverhältnis) der schweren Artillerieabteilung 641 und die II. Abteilung Flak Regiment 36. Hinzu kommen außerdem noch die „Tiger" der 1. Kompanie Panzerabteilung 502, verstärkt durch Panzer III.
Eine stattliche Feuerkraft, möchte man meinen. Doch darf nicht vergessen werden, daß diese auf einen verhältnismäßig großen Raum verteilt werden muß. Außerdem ist die gegnerische Artillerie inzwischen - durch Gefangenenaussagen bestätigt - in einem Maße verstärkt worden, daß dem Gegner schätzungsweise über 400 Rohre zur Verfügung stehen.
Die mittlerweile herangezogenen russischen Panzerverbände sind in diesem Vergleich gar nicht berücksichtigt. Aber gerade die Panzer werden in der bevorstehenden Auseinandersetzung zweifellos den Ausschlag geben. Wie viele Panzer der Oberkommandierende der Wolchow-Front bereitgestellt hat, konnte nicht ermittelt werden. Korps und Armee schätzen jedoch, daß die Sowjets etwa anderthalb Panzerregimenter in den Kampf werfen können.
Anderthalb Panzerregimenter gegen vier „Tiger"-Panzer, acht Panzer III und eine Abteilung 8,8-cm-Flak!
Der Stabschef des XXVI. Armeekorps sagte angesichts dieses Kräfteverhältnisses: „Wie gehabt - der Kampf Davids gegen den Riesen Goliath. Der Himmel sei uns gnädig."
Noch in der Nacht vom 12. auf den 13. Januar gibt es die erste Panne. Die X-Zeit, auf 7 Uhr früh angesetzt, muß verschoben werden. Neuer Angriffstermin: 9.30 Uhr.
Was war geschehen?
Die Bataillone der 96. ID konnten ihre Bereitstellungsräume nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt erreichen. Katastrophale Wegverhältnisse und der starke Beschuß russischer schwerer Artillerie, der die ganze Nacht über anhielt und vorher nicht einberechnete Umwege notwendig machte, waren die Ursache hierfür.
Der Stabschef des XXVI. Armeekorps ist sich mit dem Kommandeur der 96. ID darin einig, daß die Verschiebung der Angriffszeit verhängnisvolle Folgen haben kann, falls die Sowjets dem deutschen Gegenstoß zuvorkommen und ihrerseits sofort beim Morgengrauen ihre Angriffsoperationen fortsetzen.
Dagegen sprechen zwar einschlägige Ic-Meldungen des Korps, die allesamt besagen, daß der Gegner infolge der schweren Verluste gezwungen worden sei, auf breiter Front umzugruppieren. Ziemlich genaue Recherchen von Korps und Armee hatten ergeben, daß die sowjetischen Verluste an Toten und Verwundeten am ersten Kampftag zirka 10 000 Mann betrugen.
Der Kommandierende General des XXVI. Armeekorps, General der Inf. von Leyser, schätzte die Feindlage folgendermaßen ein:
„Nach diesen Verlusten halte ich es für unwahrscheinlich, daß die Russen vor dem Mittag des 13. Januar ihre Operationen weiter fortsetzen. Meine Herren, die kochen auch nur mit Wasser."
 
Hauptmann Sipjadom hatte nach dem Tod seines Regimentskommandeurs das Regiment nur einige Stunden lang geführt. Es war ihm gelungen, die versprengten und stark dezimierten Bataillone (Gefechtsstärken rund 50 Mann) zu sammeln und wieder einigermaßen Ordnung zu schaffen. Fast alle Kompaniechefs waren gefallen. Von den drei Bataillonskommandeuren lebte noch einer, und auch der war verwundet, führte aber weiterhin.
Sipjadom hatte die Bilanz des 1. Kampftages gezogen. Die errechneten Verlustziffern, Waffenbestand, Munitionsbestand, augenblickliche Gefechtsstärke - all das ging mit Sonderkurier an die Division mit der Bitte um weitere Befehle.
Statt der Befehle erscheint Major Proskatow, der Divisionspolitkommissar, in Sipjadoms Gefechtsstand am Newa-Ufer.
Ohne sich um den jungen Hauptmann zu kümmern, schnallt Proskatow seine Meldetasche ab, öffnet die Lederschlaufen und zieht zwei dichtbeschriebene Meldeblattformulare hervor.
Sipjadom sieht mit einem Blick, daß es seine eigene Meldung ist, die er an die Division geschickt hat.
„Sie erkennen natürlich Ihre eigenen Schriftzüge", sagte Proskatow und hebt den Blick.
„Allerdings, Genosse Major."
„Gut! Machen wir es kurz. Auf Befehl der Division übernehme ich ab sofort das Regiment. Das ist das eine." Und auf die Meldeblattformulare zeigend, fährt er fort: „Dieses da habe ich mitgebracht, weil ich mich davon überzeugen will, ob Ihre Angaben den Tatsachen entsprechen."
„Bisher hat noch kein Vorgesetzter an meiner Korrektheit gezweifelt ..."
Der Politkommissar zuckt die Schultern.
„Das mag sein. Ich persönlich habe da andere Vorstellungen. Schließlich übernehme ich ein Regiment. Und nun darf ich Sie ersuchen, mit mir die Stellungen des Regiments abzugehen."
Über eine Stunde lang kriechen Major Proskatow und Hauptmann Sipjadom durch die Kraterlandschaft. Proskatow entgeht nichts. Mit penetranter Ausdauer notiert er und vergleicht, spricht mit den Gardeschützen, läßt sich die Waffen vorzeigen, und erst als die letzte Gruppe besichtigt ist, kehrt er in den Gefechtsstand zurück.
„Ich hoffe sehr, daß Sie nach dieser Besichtigung das Regiment beruhigt übernehmen können", bemerkt Hauptmann Sipjadom.
Der Kommissar überhört den stummen Vorwurf, holt aus seiner Kartentasche ein versiegeltes Kuvert hervor und gibt es dem Hauptmann.
„Da drin sind Ihre Beförderungsurkunde und Ihre Ernennung zum Kampfgruppenkommandeur. Und nun alles Gute. Sie werden bei der 288. Division erwartet." Sipjadom grüßt und verläßt den Gefechtsstand.
Eine Stunde später meldet er sich bei der Division. Die Sipjadom zugeteilte Kampfgruppe besteht aus drei Infanteriekompanien, einer Spezialpionierkompanie mit sieben Flammenwerfern und zwölf Panzern vom Typ T 34.
Aufgabe der gemischten Kampfgruppe: Angriff auf die Arbeitersiedlung Poselok 5. Durchstoß bis zu den Sinjawino-Höhen. Angriffszeit: 13. Januar, 8 Uhr.
Die Eiligkeit dieses Kommandos unterstreichend, stellt die Division dem frischgebackenen Major einen Motorschlitten zur Verfügung, der Sipjadom auf schnellstem Wege zur Kampfgruppe bringen wird.
Es ist bereits 21 Uhr, als Major Sipjadom dort eintrifft. Die Einheit liegt 1,5 km nordöstlich des „Scheidiswaldes" und setzt sich fast ausschließlich aus sibirischen Schützen zusammen. Die Kompaniechefs sind erfahrene Truppenoffiziere, und Sipjadom hat das Gefühl, mit ihnen gut zurechtkommen zu können.
Den Kommandeur der T 34 lernt Sipjadom wenig später kennen, da dieser noch im Unterziehraum der Panzer zu tun hatte. Es ist ein Hauptmann namens Sachartschy, 25 Jahre alt, die Brust voller Orden und Medaillen. Ein Draufgänger!
Die erste Lagebesprechung findet in einem provisorisch wiederhergestellten, ehemaligen deutschen Bunker statt.
Oberleutnant Dowator, der Chef der Pionierkompanie, berichtet dem Major über die Ergebnisse der mittlerweile durchgeführten Spähtruppunternehmen. Die Spähtrupps sind bereits nach etwa 250 Meter auf die deutschen Sicherungen gestoßen, meldet er. Allem Anschein nach sei die Abwehrfront vor Poselok 5 nicht sehr stark.
Als nächstes unterzieht Sipjadom seine Kampftruppe einer kurzen Besichtigung, die zu seiner vollen Zufriedenheit ausfällt. Er hat das Gefühl, daß die Gardeschützen diszipliniert sind und noch eine erfreulich gute Kampfmoral besitzen.
Nach der Inspektion führt der Major schließlich noch ein Telefongespräch mit dem für seinen Abschnitt zuständigen Artilleriekommandeur, der ihm versichert, daß zwei Artillerieabteilungen den Angriff der Kampfgruppe mit einem zehnminütigen Feuerschlag vorbereiten werden.
An die 268. Schützendivision gibt der Major um 02.45 Uhr den Spruch durch: „Letzte Beurteilung der Lage zwingt mich, Panzer nicht wie vorgesehen in der ersten, sondern in zweiter Linie einzusetzen."
Dem Funksergeanten befiehlt er: „Ab 3.00 Uhr bis auf Widerruf abschalten. Die Verantwortung übernehme ich."
Der Sergeant schiebt Sipjadom einen Meldeblock hin. „Zu Befehl, Genosse Major. Aber ich darf Sie ersuchen, diesen Befehl schriftlich zu erteilen. Das ist Vorschrift." .
„Selbstverständlich", murmelt Sipjadom und kritzelt seinen Namen auf das stück Papier.
 
Am 13. Januar, morgens um 07.45 Uhr, setzen die Sowjets ihre Angriffe im Durchbruchsraum fort. Eingeleitet werden sie durch starkes Artilleriefeuer, das den bisherigen Feuerschlägen an Heftigkeit in nichts nachsteht.
Die gigantische Feuerwalze erreicht sogar den Gefechtsstand der 96. ID, wo alles zu den tiefen Deckungslöchern rennt. Zehn Minuten lang schießen die Russen Vernichtungsfeuer auf das deutsche Hinterland, danach trommeln sie nur noch auf die vorderste HKL.
General Noeldechen, der Kommandeur der 96. ID, sieht schwarz. Das vorzeitige Antreten der Russen kann sich zu einer unübersehbaren Katastrophe ausweiten, wenn es diesen gelingen sollte, in die in der Bereitstellung liegenden Grenadierbataillone hineinzustoßen.
Im Divisionsgefechtsstand herrscht begreiflicherweise Nervosität. Man wartet auf die ersten Meldungen von der Front.
Wo bildet der Russe Schwerpunkte? Greift er mit Infanterie oder Panzern an?
„Voraussichtlicher Angriffsschwerpunkt wird der Scheidiswald sein", mutmaßt der la der 96. ID. „Und vielleicht noch Poselok 5", fügt er stirnrunzelnd hinzu.
General Noeldechen nickt, starrt auf die Lagekarte. „Scheidiswald und Poselok 5. Da stehen doch nur noch Trümmer der 170. Infanteriedivision und einige zusammengekratzte Einheiten des überrannten GR 401. Die halten einem Großangriff der Russen niemals stand, dazu sind sie viel zu schwach."
„Und wenn die Russen durchbrechen", fügt der la sorgenvoll hinzu, „stehen sie vor den Feuerstellungen der IV. Abteilung unseres AR 196."
Diese Abteilung steht viel zu weit vorn. Sie kann im Ernstfall unmöglich einen Stellungswechsel vornehmen und wird sich - für einen Artilleristen so ziemlich das Schlimmste überhaupt - mit der blanken Waffe verteidigen müssen. Daß bei einem feindlichen Durchbruch auch nur ein einziges Geschütz gerettet werden kann, ist dann so gut wie ausgeschlossen.
Noeldechen hatte mehrmals beim Korps interveniert und auf die Gefahr hingewiesen, die seiner Artillerieabteilung droht, aber das Korps ließ ihn wissen: „Das Verbleiben der IV. Abteilung AR 196 in jetziger Stellung ist aus psychologischen Gründen unbedingt erforderlich."
In die Truppenpraxis umgesetzt, heißt das, wenn schon vorn so gut wie nichts mehr liegt, dann sollen die Landser wenigstens das Gefühl haben, daß die Artillerieabteilung ihren Kampf unterstützt.
Es ist zwanzig nach acht, als Leutnant Teske in der Fernsprechzelle der Division den Hörer abnimmt.
„Wer spricht dort? Ich kann Sie nicht verstehen. Bitte, wiederholen Sie ... Eine Sauverständigung", knurrt der Leutnant dem Nachrichtenunteroffizier Weber zu. Dann: „Was sagen Sie? - Jawohl, ich werde die Meldung sofort weitergeben. Danke. Ende."
Teske wirft den Hörer auf die Gabel und läuft zum Divisionsgefechtsstand. Sekunden später steht er atemlos vor dem la.
„Nun, Teske, was gibt's?"
„Eben kam eine telefonische Meldung aus dem Abschnitt des GR 401 durch. Der Russe ist am Scheidiswald mit Panzern und bataillonsstarker Infanterie zum Angriff angetreten. Es muß befürchtet werden, daß die Feuerstellungen der IV. Abteilung AR 196 unmittelbar bedroht sind."
„Also doch", sagt der la nur und tritt an die Lagekarte.
Scheidiswald! Dort liegt nur eine zusammengewürfelte Alarmeinheit des Oberleutnants Koch. Siebzig oder achtzig Mann, von denen einer den anderen nicht kennt. Ausgerechnet hier greifen die Russen mit Panzern und Infanterie an!
Und die Grenadiere des GR 287 können frühstens in zwei Stunden zur Stelle sein, um diese gefährliche Frontlücke abzuriegeln.
Zwei Stunden sind eine lange Zeit...
 

 
Zusammen mit seinem Kompanietruppführer beobachtet Oberleutnant Koch die aus dem 400 Meter entfernten Wäldchen vor seiner HKL in Gruppen von zwanzig bis dreißig Mann hervorbrechenden Rotarmisten. Er sieht auch die Panzer, die am Waldrand aufgefahren sind.
Etwa 100 Meter der HKL vorgelagert und durch einen tiefen Stichgraben mit dieser verbunden, liegt eine Datscha (Landhaus). Darin ein sMG (schweres Maschinengewehr), dazu vier Schützen und ein Unteroffizier als Bedienung.
Koch hat das sMG - das einzige, das er besitzt - in die Datscha verlegt, weil man von dort aus gutes Schußfeld hat und mühelos den ganzen Waldrand bestreichen kann.
Die Männer in der Datscha müßten das Feuer längst eröffnet haben. Doch das sMG schweigt. Kein Schuß fällt. Und die Russen nähern sich dem Haus in Zugstärke.
„Verdammt noch mal, warum schießen die Kerle nicht?" flucht Oberleutnant Koch. „Was ist los mit denen? Pennen die etwa?"
„Bei dem Krach? Ganz unmöglich, Herr Oberleutnant", sagt Unteroffizier Dohrn, Kochs Kompanietruppführer. „Da stimmt was nicht."
„Ist mir auch klar", knurrt der Oberleutnant.
„Eines ist auffallend, Herr Oberleutnant. Während die russische Artillerie bei uns alles kurz und klein schlug, hat die Datscha nicht mal 'nen Kratzer abbekommen. Dorthin ging nicht ein einziger Schuß."
Koch blickt seinen Kompanietruppführer verdutzt an. Dohrn hat recht. Zufall? Koch weiß es nicht. Er hat jetzt auch keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Das Gelände wimmelt von Russen. Die T 34 am Waldrand stehen mit laufenden Motoren, abrufbereit. Höchste Eisenbahn, daß etwas unternommen wird.
„Waldrand und rechts daneben die Lichtung mit Granatwerfern sperren", befiehlt der Oberleutnant. „Alle Stützpunkte MG-Feuer frei!"
Dohrn schießt eine grüne Leuchtrakete - das verabredete Zeichen - in den Himmel.
Schlagartig prasselt das Feuer der deutschen MG-Schützen auf die Angreifer hernieder, krachen die Gewehrschüsse, schleudern die Werfer Granaten zum Waldrand hinüber, wo die T 34 auf der Lauer liegen.
Kochs Grenadiere schießen aus allen Waffen. Aber der ganze Feuerzauber hat nur dann Wirkung, wenn das sMG in der Datscha mithält. Mit seinem flankierenden Feuer wäre es für die Russen gefährlich.
So tritt denn auch das ein, was Koch längst befürchtete. Die Rotarmisten spritzen auseinander, werfen sich in Deckung und kommen nun in kleineren Gruppen sprungweise heran; unterstützt von den Panzern, die mit genau liegendem Punktfeuer die deutschen MG-Stellungen unter
Beschüß nehmen.
Die Russen wiederum, die sich der Datscha genähert haben, hasten in eine querlaufende Bodenmulde, wo sie außerhalb des Wirkungsbereichs der Stützpunkt-MG sind.
„Ich halte das nicht mehr aus", platzt Kochs Kompanietruppführer plötzlich heraus. „Ich sehe nach, was bei Spieker los ist, Herr Oberleutnant."
Spieker ist der sMG-Truppführer, ein zuverlässiger und besonnener Soldat, ein Unteroffizier bewährter Art.
„Das schaffen Sie nicht, Dohrn", warnt Koch, aber Unteroffizier Dohrn jagt bereits durch eine Kurzsappe und taucht im Stichgraben unter.
„Zurück, Dohrn! Sind Sie verrückt geworden?" schreit der Oberleutnant hinter seinem Kompanietruppführer her.
Rums-wrach! Rums-wrach!
Die T 34 haben den einzelnen Mann im Stichgraben ausgemacht und funken nun in den Graben rein, daß die Fetzen fliegen.
Niemals schafft er das, denkt Oberleutnant Koch erbittert, denn Dohrn und die sMG-Bedienung sind die einzigen Männer, die von seinem eigenen Haufen sind, die er kennt und auf die er sich verlassen kann, wenn es hart auf hart gehen sollte.
Auch Dohrn gibt keinen Heller mehr für sein Leben. Vor und hinter ihm, rechts und links schlagen die Panzersprenggranaten ein, sirren die Splitter haarscharf an seinem Kopf vorbei. Doch er gibt nicht auf. Diese Sache mit Spieker und seinem sMG sitzt wie ein Stachel in ihm. Ganz abgesehen davon, muß das schwere Maschinengewehr in den Einsatz kommen, sonst ist hier in dieser belemmerten Stellung der Ofen gleich aus.
 

   

 
Um die Datscha pfeifen und heulen nun die Geschoßgarben mehrerer russischer Maschinengewehre.
Die letzten zwanzig Meter kriecht Dohrn auf dem Bauch, und als er sich der Datscha bis auf wenige Meter genähert hat, brüllt er: „Spieker! Spieker, was ist los? Melde dich!"
Keine Antwort. Kein Geräusch aus der Datscha. Dafür wütendes Gebelfer der russischen MG, die mit Dauerfeuer die Vorderfront des Hauses bepflastern.
Wenig später liegt Dohrn vor der feindabwärts gewandten Tür der Datscha, die jetzt eigentlich mehr einen Kampfbunker darstellt. Die Tür steht einen Spalt breit offen. „Spieker! Ich bin's, Dohrn!" Wieder keine Antwort.
Entschlossen, sich Klarheit zu verschaffen, schiebt Dohrn den Lauf der Maschinenpistole zwischen Tür und Angel, stößt dann die Tür mit einem Ruck auf. Gleichzeitig schnellt er nach vorn und springt ins Innere.
Da die beiden Fenster verrammelt sind und das Licht nur durch die Schlitze der Schießscharten in den Raum dringen kann, herrscht diffuses Zwielicht, in dem nur schwer etwas zu erkennen ist. Doch dann steigt Dohrn plötzlich ein Geruch in die Nase, der ihn erschauern läßt. Hier riecht es nach Blut, Waffenöl und unsauberer Kleidung.
Der Geruch des Todes! Welcher Soldat kennt ihn nicht?
Spieker und die vier Männer der MG-Bedienung liegen in ihrem Blut, festgefroren auf dem Boden, erstochen. Der russische Überfall auf die Datscha muß ungemein listig und schnell durchgeführt worden sein, denn Dohrn kann nicht die geringsten Kampfspuren finden.
Waren die Kameraden, überfordert durch die vorhergegangenen Kämpfe, eingeschlafen? Konnten sie deshalb von den Russen überrascht und niedergemacht werden? Es muß so gewesen sein. Anders kann sich Dohrn ihren schrecklichen Tod nicht erklären. Die Russen mußten in Eile gewesen sein. Sie hatten nicht mal das sMG mitgenommen oder zerstört. Sogar die Munitionskästen sind noch da, und in der Zuführung liegt ein voller Gurt.
Trotz der grausigen Entdeckung und des damit verbundenen Schocks handelt Unteroffizier Dohrn kaltblütig und entschlossen. Den Kameraden hier ist nicht mehr zu helfen, aber die anderen in der Stellung brauchen die Unterstützung durch das sMG.
Daß er selbst in größter Gefahr schwebt, weil er zwar die Waffe bedienen und schießen, nicht aber zu gleicher Zeit das Gelände ringsum kontrollieren kann, daran denkt Dohrn nicht mehr.
Oberleutnant Koch zuckt überrascht zusammen, als das sMG in der Datscha zu feuern beginnt. Es muß Dohrn sein, der schießt. Die Soldaten der Kompanie sehen, wie die Geschoßgarben in die russischen Angriffsreihen prasseln, die Gardeschützen reihenweise niedergemäht werden, stürzen, durcheinandergeraten.
Das flankierende Feuer aus der Datscha verschafft ihnen Luft und läßt wieder einen Funken Hoffnung aufglimmen. Doch diese Hoffnung zerstiebt wenige Minuten später wie Rauch im Wind.
Mitten in das Geschnatter der feindlichen und eigenen Maschinengewehre hinein brüllen die Motoren der Panzer am Waldrand auf. Die T 34 walzen das Gestrüpp nieder und rollen aus der Deckung hervor. „Panzer! Die Panzer greifen an!"
Oberleutnant Kochs Hände zittern, als er das Fernglas hält und zum Waldrand hinüberspäht.
Da kommen sie. Einer, zwei, vier, sieben, neun, mit weißer Tarnfarbe angestrichene T 34!
Während die Panzer bei den Grenadieren der Alarmeinheit Koch Schrecken und Angst verbreiten - im ganzen Abschnitt gibt es weder Pak noch irgendeine panzerbrechende Waffe -, bricht bei den Russen Jubel aus. „Urrä" brandet über die Ebene.
Koch läuft es kalt über den Rücken. Neun T 34 - weitere werden noch im Wald stehen - und russische Infanterie mindestens in Bataillonsstärke. Das kann nicht gut gehen !
Aber da ist noch die Minensperre! Durch die müssen die T 34 hindurch, weil das Gelände rechts und links davon nicht panzertragend und zudem so verweht ist, daß die Kampfwagen steckenbleiben würden.
An dieses Hindernis klammern sich siebzig Grenadiere und ein Oberleutnant.
Trotzdem gibt sich Koch keinen Illusionen hin. Er kennt die Russen. Sie werden einen Moment stutzen, wenn der erste Panzer in die Luft fliegt, aber es wird sie nicht daran hindern weiterzufahren. Mögen drei, vier oder gar fünf T 34 drauf gehen, einige werden es doch schaffen.
Die T 34 rollen an. Sie fahren, immer zwei dicht nebeneinander, direkt auf die Minensperre zu.
Der neben Koch liegende Obergefreite Beer, stellvertretender Kompanietruppführer, beißt vor Erregung in seinen Wollfäustling. „Gleich kracht's, Herr Oberleutnant!" prophezeit er. Dein Wort in Gottes Ohr, denkt Koch und blickt mit klopfendem Herzen auf die durch den Schnee furchenden Panzer. Jetzt scheren sie in eine Reihe ein, kommen nun hintereinander daher. Noch zwanzig Meter, zehn, fünf... „Jetzt!" sagt der Obergefreite.
Doch nichts geschieht. Keine Minenexplosion erschüttert die Luft. Die T 34 marschieren durch die Minensperre, als wäre diese gar nicht da.
„Mein Gott, das gibt es doch nicht", stöhnt Beer mit leichenblasser Miene. „Das ist doch nicht möglich, Herr Oberleutnant! Wenn ich nicht genau wüßte, daß unsere Pioniere über zweihundert Minen verlegt haben..."
„Haben sie auch, Beer. Aber die Iwans haben heute nacht eine Minengasse geräumt..."
Beer hat Tränen der Wut in den Augen.
„Los, laufen Sie zurück zu den Granatwerfern", befiehlt der Oberleutnant. „Möglich soll vier Schuß ins Minenfeld setzen. Aber rasch, Mann!"
Der Obergefreite wetzt los. Knapp zwei Minuten später rauschen die Werfergranaten über die Köpfe der Grenadiere hinweg und schlagen mitten im Minenfeld ein. Fast zur selben Zeit gehen vier oder fünf T-Minen hoch.
Nun weiß Oberleutnant Koch mit absoluter Gewißheit, daß die Russen während der Nacht im Minenfeld waren.
Es ist 9.10 Uhr, als die T 34 des russischen Kampfgruppenkommandeurs, Major Sipjadom, in die Stellungen der Alarmkompanie des Oberleutnants Koch einbrechen. Hinter ihnen kommen die Gardeschützen, schlüpfen durch die Minengasse, immer in Deckung der Panzer, während die Pioniere Sipjadoms, gedeckt vom Feuer der MG und Panzer, die Gasse verbreitern.
Noch halten Oberleutnant Kochs Grenadiere die Stellung, hämmern die MG, kämpfen diese armen Teufel mit dem Mut der Verzweiflung und werfen einen Trupp Rotarmisten, die es zu eilig hatten, aus einem Grabenstück heraus. Doch dann sind die Panzer da, drehen ein, rasseln über die Gräben und Deckungslöcher hinweg.
„Panzer von links! - Panzer von vorn!"
Schreie, gellende Warnrufe. Die T 34 überrollen die Deutschen, und nicht einer von ihnen kommt dazu, die Hände zu heben, um sich zu ergeben. Manch einer hat das Glück, daß die Grabenwände nicht einbrechen, dann fährt der schreckliche Tod noch einmal an ihm vorüber.
Der Kampf der Alarmkompanie Koch ist kurz, grausam und hoffnungslos. Es wird ein Gemetzel, wie es furchtbarer nicht sein könnte. Beide Seiten kämpfen mit allen Waffen, die ihnen zur Verfügung stehen.
Bei dem Versuch, einen T 34 mit geballter Ladung zu erledigen, fällt Oberleutnant Koch. Ein Wachsamer russischer MPi-Schütze streckt den deutschen Oberleutnant mit einer Salve nieder. Koch wankt noch einige Schritte weiter, jagt eine Garbe aus seiner MPi in eine Gruppe Rotarmisten, dann bricht er zusammen. Die Gleisketten eines T 34 walzen ihn in den Schnee.
Die „Operation Scheidiswald" ist für den russischen Major Sipjadom so gut wie gelaufen. Der Durchbruch ist geschafft. Die Siegesmeldung kann an die 268. Schützendivision abgehen.
Feindliche Widerstandslinie ostwärts Geländepunkt 7779 durchbrochen. Kein Widerstand mehr. Erbitte weitere Befehle. -
Dieser Funkspruch, der Eile wegen im Klartext abgegeben, wird - wie so viele andere russische Funksprüche auch - vom Abhördienst des XXVI. Armeekorps aufgefangen und dem Ic übermittelt. So alarmierend er ist, erregt er dennoch keine Panik mehr. Er war nur eine von Dutzenden Hiobsbotschaften und Meldungen, die das Korps an diesem 13. Januar 1943 erreichten.
 
Hoffnungsloser, als die Lage im „Flaschenhals" von Schlüsselburg im Moment ist, kann sie nicht mehr werden. Der heutige und vielleicht noch der morgige Tag werden die Entscheidung darüber bringen, ob die 18. Armee in der Lage sein wird, die gewaltige sowjetische Newa-Offensive abzufangen.
Im Kampfraum der 170. ID läuft seit einer halben Stunde der Gegenangriff der 96. ID. Schon rollen die vier „Tiger"-Panzer in den Durchbruchsraum nordöstlich von Gorodok, jagt die schwere Abteilung des Flakregiments 36 mit ihren 8,8-cm-Geschützen in die bedrohte Ecke. Die Grenadierbataillone General Noeldechens, voran das GR 284, haben ebenfalls schon Feindberührung.
Das winterliche Duell in den Torfmooren südlich der Newa und vor den Sinjawino-Höhen hat erst begonnen, in dessen Verlauf auf deutscher Seite statt vier Divisionen insgesamt zwölf zum Einsatz gebracht werden müssen.
Am Ende wird es weder Sieger noch Besiegte geben, dafür aber Tausende und aber Tausende von Verwundeten und Toten auf beiden Seiten...
 
Quelle: Veteran 170. Infanterie Division für die Zeitschrift Landser geschrieben.

     

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